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ALTRI DOCUMENTI
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Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor
Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der
Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser
Furcht zu viele Einzelnheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs
zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche Dir schriftlich zu antworten,
so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht
und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil überhaupt die Größe des
Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.
Dir hat sich die Sache immer sehr einfach dargestellt, wenigstens soweit Du vor
mir und, ohne Auswahl, vor vielen andern davon gesprochen hast. Es schien Dir
etwa so zu sein: Du hast Dein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, alles für
Deine Kinder, vor allem für mich geopfert, ich habe infolgedessen "in Saus
und Braus" gelebt, habe vollständige Freiheit gehabt zu lernen, was ich
wollte, habe keinen Anlaß zu Nahrungssorgen, also zu Sorgen überhaupt gehabt;
Du hast dafür keine Dankbarkeit verlangt, Du kennst "die Dankbarkeit der
Kinder", aber doch wenigstens irgendein Entgegenkommen, Zeichen eines
Mitgefühls; statt dessen habe ich mich seit jeher vor Dir verkrochen, in mein
Zimmer, zu Büchern, zu verrückten Freunden, zu überspannten Ideen; offen
gesprochen habe ich mit Dir niemals, in den Tempel bin ich nicht zu Dir
gekommen, in Franzensbad habe ich Dich nie besucht, auch sonst nie Familiensinn
gehabt, um das Geschäft und Deine sonstigen Angelegenheiten habe ich mich nicht
gekümmert, die Fabrik habe ich Dir aufgehalst und Dich dann verlassen, Ottla
habe ich in ihrem Eigensinn unterstützt und während ich für Dich keinen Finger
rühre (nicht einmal eine Teaterkarte bringe ich Dir) tue ich für Fremde alles.
Faßt Du Dein Urteil über mich zusammen, so ergibt sich, daß Du mir zwar etwas
geradezu Unanständiges oder Böses nicht vorwirfst (mit Ausnahme vielleicht
meiner letzten Heiratsabsicht), aber Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit. Undzwar
wirfst Du es mir so vor, als wäre es meine Schuld, als hätte ich etwa mit einer
Steuerdrehung das Ganze anders einrichten können, während Du nicht die
geringste Schuld daran hast, es wäre denn die, daß Du zu gut zu mir gewesen
bist.
Diese Deine übliche Darstellung halte ich nur soweit für richtig, daß auch ich
glaube, Du seist gänzlich schuldlos an unserer Entfremdung. Aber ebenso
gänzlich schuldlos bin auch ich. Könnte ich Dich dazu bringen, daß Du das
anerkennst, dann wäre - nicht etwa ein neues Leben möglich, dazu sind wir beide
viel zu alt, aber doch eine Art Friede, kein Aufhören, aber doch ein Mildern
Deiner unaufhörlichen Vorwürfe.
Irgendeine Ahnung dessen, was ich sagen will, hast Du merkwürdiger Weise. So
hast Du mir z. B. vor Kurzem gesagt: "ich habe Dich immer gern gehabt,
wenn ich auch äußerlich nicht so zu Dir war wie andere Väter zu sein pflegen,
eben deshalb weil ich mich nicht verstellen kann, wie andere". Nun habe
ich, Vater, im Ganzen niemals an Deiner Güte mir gegenüber gezweifelt, aber
diese Bemerkung halte ich für unrichtig. Du kannst Dich nicht verstellen, das
ist richtig, aber nur aus diesem Grunde behaupten wollen, daß die andern Väter
sich verstellen, ist entweder bloße, nicht weiter diskutierbare Rechthaberei
oder aber - und das ist es meiner Meinung nach wirklich - der verhüllte
Ausdruck dafür, daß zwischen uns etwas nicht in Ordnung ist und daß Du es
mitverursacht hast, aber ohne Schuld. Meinst Du das wirklich, dann sind wir
einig.
Ich sage ja natürlich nicht, daß ich das, was ich bin, nur durch Deine
Einwirkung geworden bin. Das wäre sehr übertrieben (und ich neige sogar zu
dieser Übertreibung.) Es ist sehr leicht möglich, daß ich, selbst wenn ich ganz
frei von Deinem Einfluß aufgewachsen wäre, doch kein Mensch nach Deinem Herzen
hätte werden können. Ich wäre wahrscheinlich doch ein schwächlicher,
ängstlicher, zögernder, unruhiger Mensch geworden, weder Robert Kafka, noch
Karl Hermann, aber doch ganz anders, als ich wirklich bin und wir hätten uns ausgezeichnet
mit einander vertragen können. Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als
Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst (wenn auch schon zögernder) als
Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich,
besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher
kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel
zu schwach.
Vergleiche uns beide: ich, um es sehr abgekürzt auszudrücken, ein Löwy mit
einem gewissen Kafka'schen Fond, der aber eben nicht durch den Kafka'schen
Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird, sondern durch
einen Löwy'schen Stachel, der geheimer, scheuer, in anderer Richtung wirkt und
oft überhaupt aussetzt. Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit,
Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit,
Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, einer gewissen Großzügigkeit,
natürlich auch mit allen zu diesen Vorzügen gehörigen Fehlern und Schwächen, in
welche Dich Dein Temperament und manchmal Dein Jähzorn hineinhetzen. Nicht
ganzer Kafka bist Du vielleicht in Deiner allgemeinen Weltansicht, soweit ich
Dich mit Onkel Philipp, Ludwig, Heinrich vergleichen kann. Das ist merkwürdig,
ich sehe hier auch nicht ganz klar. Sie waren doch alle fröhlicher, frischer,
ungezwungener, leichtlebiger, weniger streng als Du. (Darin habe ich übrigens
viel von Dir geerbt und das Erbe viel zu gut verwaltet, ohne allerdings die
nötigen Gegengewichte in meinem Wesen zu haben, wie Du sie hast.) Doch hast
auch andererseits Du in dieser Hinsicht verschiedene Zeiten durchgemacht, warst
vielleicht fröhlicher, ehe Dich Deine Kinder, besonders ich, enttäuschten und
zuhause bedrückten (kamen Fremde, warst Du ja anders) und bist auch jetzt vielleicht
wieder fröhlicher geworden, da Dir die Enkel und der Schwiegersohn wieder etwas
von jener Wärme geben, die Dir die Kinder, bis auf Valli vielleicht, nicht
geben konnten.
Jedenfalls waren wir so verschieden und in dieser Verschiedenheit einander so
gefährlich, daß, wenn man es hätte etwa im voraus ausrechnen wollen, wie ich,
das langsam sich entwickelnde Kind, und Du, der fertige Mann, sich zu einander
verhalten werden, man hätte annehmen können, daß Du mich einfach niederstampfen
wirst, daß nichts von mir übrigbl 444i88e eibt. Das ist nun nicht geschehn, das
Lebendige läßt sich nicht ausrechnen, aber vielleicht ist Ärgeres geschehn.
Wobei ich Dich aber immerfort bitte, nicht zu vergessen, daß ich niemals im
entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube. Du wirktest so auf mich, wie
Du wirken mußtest, nur sollst Du aufhören, es für eine besondere Bosheit
meinerseits zu halten, daß ich dieser Wirkung erlegen bin.
Ich war ein ängstliches Kind, trotzdem war ich gewiß auch störrisch, wie Kinder
sind, gewiß verwöhnte mich die Mutter auch, aber ich kann nicht glauben, daß
ich besonders schwer lenkbar war, ich kann nicht glauben, daß ein freundliches
Wort, ein stilles Beider-Handnehmen, ein guter Blick mir nicht alles hätten
abfordern können, was man wollte. Nun bist Du ja im Grunde ein gütiger und
weicher Mensch (das Folgende wird dem nicht widersprechen, ich rede ja nur von
der Erscheinung, in der Du auf das Kind wirktest) aber nicht jedes Kind hat die
Ausdauer und Unerschrockenheit, solange zu suchen, bis es zu der Güte kommt. Du
kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit
Kraft, Lärm und Jähzorn und in diesem Fall schien Dir das auch noch überdies
deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir
aufziehn wolltest.
Deine Erziehungsmittel in den allerersten Jahren kann ich heute natürlich nicht
unmittelbar beschreiben, aber ich kann sie mir etwa vorstellen durch Rückschluß
aus den späteren Jahren und aus Deiner Behandlung des Felix. Hiebei kommt
verschärfend in Betracht, daß Du damals jünger, daher frischer, wilder,
ursprünglicher, noch unbekümmerter warst als heute und daß Du außerdem ganz an
das Geschäft gebunden warst, kaum einmal des Tages Dich mir zeigen konntest und
deshalb einen umso tieferen Eindruck auf mich machtest, der sich kaum je zur
Gewöhnung verflachte.
Direkt erinnere ich mich nur an einen Vorfall aus den ersten Jahren, Du
erinnerst Dich vielleicht auch daran. Ich winselte einmal in der Nacht
immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu
ärgern, teils um mich zu unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht
geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche
und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd
stehn. Ich will nicht sagen, daß das unrichtig war, vielleicht war damals die
Nachtruhe auf andere Weise wirklich nicht zu verschaffen, ich will aber damit
Deine Erziehungsmittel und ihre Wirkung auf mich charakterisieren. Ich war
damals nachher wohl schon folgsam, aber ich hatte einen innern Schaden davon.
Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Ums-Wasser-bittens und das
außerordentlich Schreckliche des Hinausgetragenwerdens konnte ich meiner Natur
nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich
unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte
Instanz fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die
Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war.
Das war damals ein kleiner Anfang nur, aber dieses mich oft beherrschende
Gefühl der Nichtigkeit (ein in anderer Hinsicht allerdings auch edles und
fruchtbares Gefühl) stammt vielfach von Deinem Einfluß. Ich hätte ein wenig
Aufmunterung, ein wenig Freundlichkeit, ein wenig Offenhalten meines Wegs
gebraucht, statt dessen verstelltest Du ihn mir, in der guten Absicht freilich,
daß ich einen andern Weg gehen sollte. Aber dazu taugte ich nicht. Du
muntertest mich z. B. auf, wenn ich gut salutierte und marschierte, aber ich
war kein künftiger Soldat, oder Du muntertest mich auf, wenn ich kräftig essen
und sogar Bier dazu trinken konnte, oder wenn ich unverstandene Lieder
nachsingen oder Deine Lieblingsredensarten Dir nachplappern konnte, aber nichts
davon gehörte zu meiner Zukunft. Und es ist bezeichnend, daß Du selbst heute
mich nur dann eigentlich in etwas aufmunterst, wenn Du selbst in
Mitleidenschaft gezogen bist, wenn es sich um Dein Selbstgefühl handelt, das
ich verletze (z. B. durch meine Heiratsabsicht) oder das in mir verletzt wird
(wenn z. B. Pepa mich beschimpft). Dann werde ich aufgemuntert, an meinen Wert
erinnert, auf die Partien hingewiesen, die ich zu machen berechtigt wäre und
Pepa wird vollständig verurteilt. Aber abgesehen davon, daß ich für Aufmunterung
in meinem jetzigen Alter schon fast unzugänglich bin, was würde sie mir auch
helfen, wenn sie nur dann eintritt, wo es nicht in erster Reihe um mich geht.
Damals und damals überall hätte ich die Aufmunterung gebraucht. Ich war ja
schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich z. B.
daran, wie wir uns öfters zusammen in einer Kabine auszogen. Ich mager,
schwach, schmal, Du stark, groß, breit. Schon in der Kabine kam ich mir
jämmerlich vor undzwar nicht nur vor Dir, sondern vor der ganzen Welt, denn Du
warst für mich das Maß aller Dinge. Traten wir dann aber aus der Kabine vor die
Leute hinaus, ich an Deiner Hand, ein kleines Gerippe, unsicher bloßfüßig auf
den Planken, in Angst vor dem Wasser, unfähig Deine Schwimmbewegungen nachzumachen,
die Du mir in guter Absicht, aber tatsächlich zu meiner tiefen Beschämung
immerfort vormachtest, dann war ich sehr verzweifelt und alle meine schlimmen
Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig
zusammen. Am wohlsten war mir noch, wenn Du Dich manchmal zuerst auszogst und
ich allein in der Kabine bleiben und die Schande des öffentlichen Auftretens
solange hinauszögern konnte, bis Du endlich nachschauen kamst und mich aus der
Kabine triebst. Dankbar war ich Dir dafür, daß Du meine Not nicht zu bemerken
schienest, auch war ich stolz auf den Körper meines Vaters. Übrigens besteht
zwischen uns dieser Unterschied heute noch ähnlich.
Dem entsprach weiter Deine geistige Oberherrschaft. Du hattest Dich allein
durch eigene Kraft so hoch hinaufgearbeitet, infolgedessen hattest Du
unbeschränktes Vertrauen zu Deiner Meinung. Das war für mich als Kind nicht
einmal so blendend wie später für den heranwachsenden jungen Menschen. In
Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere
war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal. Dabei war Dein
Selbstvertrauen so groß, daß Du gar nicht konsequent sein mußtest und doch
nicht aufhörtest Recht zu haben. Es konnte auch vorkommen, daß Du in einer
Sache gar keine Meinung hattest und infolgedessen alle Meinungen, die
hinsichtlich der Sache überhaupt möglich waren, ohne Ausnahme falsch sein
mußten. Du konntest z. B. auf die Tschechen schimpfen, dann auf die Deutschen,
dann auf die Juden undzwar nicht nur in Auswahl sondern in jeder Hinsicht und
schließlich blieb niemand mehr übrig außer Dir. Du bekamst für mich das
Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf
dem Denken begründet ist. Wenigstens schien es mir so.
Nun behieltest Du ja mir gegenüber tatsächlich erstaunlich oft Recht, im
Gespräch war das selbstverständlich, denn zum Gespräch kam es kaum, aber auch
in Wirklichkeit. Doch war auch das nichts besonders Unbegreifliches. Ich stand
ja in allem meinem Denken unter Deinem schweren Druck, auch in dem Denken, das
nicht mit dem Deinen übereinstimmte und besonders in diesem. Alle diese von Dir
scheinbar unabhängigen Gedanken waren von Anfang an belastet mit Deinem
absprechenden Urteil; bis zur vollständigen und dauernden Ausführung des
Gedankens das zu ertragen, war fast unmöglich. Ich rede hier nicht von
irgendwelchen hohen Gedanken, sondern von jedem kleinen Unternehmen der
Kinderzeit. Man mußte nur über irgendeine Sache glücklich sein, von ihr erfüllt
sein, nach Hause kommen und es aussprechen und die Antwort war ein ironisches
Seufzen, ein Kopfschütteln, ein Fingerklopfen auf dem Tisch: "Hab' auch
schon etwas Schöneres gesehn" oder "Mir gesagt, Deine Sorgen"
oder "ich hab keinen so geruhten Kopf" oder "Ein Ereignis!
" oder "Kauf Dir was dafür! " Natürlich konnte man nicht für
jede Kinderkleinigkeit Begeisterung von Dir verlangen, wenn Du in Sorge und
Plage lebtest. Darum handelte es sich auch nicht. Es handelte sich vielmehr
darum, daß Du solche Enttäuschungen dem Kinde immer und grundsätzlich bereiten
mußtest kraft Deines gegensätzlichen Wesens, weiter daß dieser Gegensatz durch
Aufhäufung des Materials sich unaufhörlich verstärkte, so daß er sich
schließlich auch gewohnheitsmäßig geltend machte, wenn Du einmal der gleichen Meinung
warst wie ich und daß endlich diese Enttäuschungen des Kindes nicht
Enttäuschungen des gewöhnlichen Lebens waren, sondern, da es ja um Deine für
alles maßgebende Person gieng, im Kern trafen. Der Mut, die Entschlossenheit,
die Zuversicht, die Freude an dem und jenem hielten nicht bis zum Ende aus,
wenn Du dagegen warst oder schon wenn Deine Gegnerschaft bloß angenommen werden
konnte; und angenommen konnte sie wohl bei fast allem werden, was ich tat.
Das bezog sich auf Gedanken so gut wie auf Menschen. Es genügte, daß ich an
einem Menschen ein wenig Interesse hatte - es geschah ja infolge meines Wesens
nicht sehr oft - daß Du ohne jede Rücksicht auf mein Gefühl und ohne Achtung
vor meinem Urteil mit Beschimpfung, Verläumdung, Entwürdigung dreinfuhrst. Unschuldige,
kindliche Menschen wie z. B. der jiddische Schauspieler Löwy mußten das büßen.
Ohne ihn zu kennen, verglichst Du ihn in einer schrecklichen Weise, die ich
schon vergessen habe, mit Ungeziefer und wie so oft für Leute, die mir lieb
waren, hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der
Hand. An den Schauspieler erinnere ich mich hier besonders, weil ich Deine
Aussprüche über ihn damals mir mit der Bemerkung notierte: "So spricht
mein Vater über meinen Freund (den er gar nicht kennt) nur deshalb, weil er
mein Freund ist. Das werde ich ihm immer entgegenhalten können, wenn er mir
Mangel an kindlicher Liebe und Dankbarkeit vorwerfen wird." Unverständlich
war mir immer Deine vollständige Empfindungslosigkeit dafür, was für Leid und
Schande Du mit Deinen Worten und Urteilen mir zufügen konntest, es war, als
hättest Du keine Ahnung von Deiner Macht. Auch ich habe Dich sicher oft mit
Worten gekränkt, aber dann wußte ich es immer, es schmerzte mich, aber ich
konnte mich nicht beherrschen, das Wort nicht zurückhalten, ich bereute es
schon, während ich es sagte. Du aber schlugst mit Deinen Worten ohne weiters
los, niemand tat Dir leid, nicht währenddessen, nicht nachher, man war gegen
Dich vollständig wehrlos.
Aber so war Deine ganze Erziehung. Du hast, glaube ich, ein Erziehungstalent;
einem Menschen Deiner Art hättest Du durch Erziehung gewiß nützen können; er
hätte die Vernünftigkeit dessen, was Du ihm sagtest, eingesehn, sich um nichts
weiteres gekümmert und die Sachen ruhig so ausgeführt. Für mich als Kind war
aber alles, was Du mir zuriefst, geradezu Himmelsgebot, ich vergaß es nie, es
blieb mir das wichtigste Mittel zur Beurteilung der Welt, vor allem zur
Beurteilung Deiner selbst und da versagtest Du vollständig. Da ich als Kind
hauptsächlich beim Essen mit Dir beisammen war, war Dein Unterricht zum großen
Teil Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch. Was auf den Tisch kam, mußte
aufgegessen, über die Güte des Essens durfte nicht gesprochen werden - Du aber
fandst das Essen oft ungenießbar, nanntest es "das Fressen", das
"Vieh" (die Köchin) hatte es verdorben. Weil Du entsprechend Deinem
kräftigen Hunger und Deiner besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in
großen Bissen gegessen hast, mußte sich das Kind beeilen, düstere Stille war
bei Tisch, unterbrochen von Ermahnungen: "zuerst iß, dann sprich"
oder "schneller, schneller, schneller" oder "siehst Du, ich habe
schon längst aufgegessen". Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja.
Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja. Die Hauptsache war, daß man das Brot
gerade schnitt; daß Du das aber mit einem von Sauce triefenden Messer tatest,
war gleichgültig. Man mußte achtgeben, daß keine Speisereste auf den Boden
fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit
Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest
Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren. Bitte, Vater, verstehe
mich recht, das wären an sich vollständig unbedeutende Einzelnheiten gewesen,
niederdrückend wurden sie für mich erst dadurch, daß Du, der für mich so
ungeheuer maßgebende Mensch, Dich selbst an die Gebote nicht hieltest, die Du
mir auflegtest. Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in
einen, wo ich, der Sklave lebte, unter Gesetzen, die nur für mich erfunden
waren und denen ich überdies, ich wußte nicht warum, niemals völlig entsprechen
konnte, dann in eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der
Du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und mit
dem Ärger wegen deren Nichtbefolgung, und schließlich in eine dritte Welt, wo
die übrigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten. Ich war
immerfort in Schande, entweder befolgte ich Deine Befehle, das war Schande,
denn sie galten ja nur für mich; oder ich war trotzig, das war auch Schande,
denn wie durfte ich Dir gegenüber trotzig sein, oder ich konnte nicht folgen,
weil ich z. B. nicht Deine Kraft, nicht Deinen Appetit, nicht Deine
Geschicklichkeit hatte, trotzdem Du es als etwas Selbstverständliches von mir
verlangtest; das war allerdings die größte Schande. In dieser Weise bewegten
sich nicht die Überlegungen, aber das Gefühl des Kindes.
Meine damalige Lage wird vielleicht deutlicher, wenn ich sie mit der von Felix
vergleiche. Auch ihn behandelst Du ja ähnlich, ja wendest sogar ein besonders
fürchterliches Erziehungsmittel gegen ihn an, indem Du, wenn er beim Essen
etwas Deiner Meinung nach Unreines macht, Dich nicht damit begnügst, wie damals
zu mir, zu sagen: "Du bist ein großes Schwein" sondern noch
hinzufügst: "ein echter Hermann" oder "genau, wie Dein
Vater". Nun schadet das aber vielleicht - mehr als "vielleicht"
kann man nicht sagen - dem Felix wirklich nicht wesentlich, denn für ihn bist
Du eben nur ein allerdings besonders bedeutender Großvater, aber doch nicht
alles, wie Du es für mich gewesen bist, außerdem ist Felix ein ruhiger, schon
jetzt gewissermaßen männlicher Charakter, der sich durch eine Donnerstimme
vielleicht verblüffen, aber nicht für die Dauer bestimmen läßt, vor allem aber
ist er doch nur verhältnismäßig selten mit Dir beisammen, steht ja auch unter
anderen Einflüssen, Du bist ihm mehr etwas liebes Kurioses, aus dem er
auswählen kann, was er sich nehmen will. Mir warst Du nichts Kurioses, ich konnte
nicht auswählen, ich mußte alles nehmen.
Undzwar ohne etwas dagegen vorbringen zu können, denn es ist Dir von vornherein
nicht möglich ruhig über eine Sache zu sprechen, mit der Du nicht einverstanden
bist oder die bloß nicht von Dir ausgeht; Dein herrisches Temperament läßt das
nicht zu. In den letzten Jahren erklärst Du das durch Deine Herznervosität, ich
wüßte nicht, daß Du jemals wesentlich anders gewesen bist, höchstens ist Dir
die Herznervosität ein Mittel zur strengeren Ausübung der Herrschaft, da der
Gedanke daran die letzte Widerrede im anderen ersticken muß. Das ist natürlich
kein Vorwurf, nur Feststellung einer Tatsache. "Man kann ja mit ihr gar
nicht sprechen, sie springt einem gleich ins Gesicht", pflegst Du zu
sagen, aber in Wirklichkeit springt sie ursprünglich gar nicht; Du verwechselst
die Sache mit der Person; die Sache springt Dir ins Gesicht und Du entscheidest
sie sofort ohne Anhören der Person; was nachher noch vorgebracht wird, kann
Dich nur weiter reizen, niemals überzeugen. Dann hört man von Dir nur noch:
"Mach, was Du willst; von mir aus bist Du frei; Du bist großjährig; ich
habe Dir keine Ratschläge zu geben" und alles das mit dem fürchterlichen
heiseren Unterton des Zornes und der vollständigen Verurteilung, vor dem ich
heute nur deshalb weniger zittere als in der Kinderzeit, weil das
ausschließliche Schuldgefühl des Kindes zum Teil ersetzt ist durch den Einblick
in unser beider Hilflosigkeit.
Die Unmöglichkeit des ruhigen Verkehrs hatte noch eine weitere eigentlich sehr
natürliche Folge: ich verlernte das Reden. Ich wäre ja wohl auch sonst kein
großer Redner geworden, aber die gewöhnlich fließende menschliche Sprache hätte
ich doch beherrscht. Du hast mir aber schon früh das Wort verboten, Deine
Drohung: "kein Wort der Widerrede! " und die dazu erhobene Hand
begleiten mich schon seit jeher. Ich bekam vor Dir - Du bist, sobald es um
Deine Dinge geht, ein ausgezeichneter Redner - eine stockende, stotternde Art
des Sprechens, auch das war Dir noch zu viel, schließlich schwieg ich, zuerst
vielleicht aus Trotz, dann weil ich vor Dir weder denken, noch reden konnte.
Und weil Du mein eigentlicher Erzieher warst, wirkte das überall in meinem
Leben nach. Es ist überhaupt ein merkwürdiger Irrtum, wenn Du glaubst, ich
hätte mich Dir nie gefügt. "Immer alles contra" ist wirklich nicht
mein Lebensgrundsatz Dir gegenüber gewesen, wie Du glaubst und mir vorwirfst.
Im Gegenteil: hätte ich Dir weniger gefolgt, Du wärest sicher viel zufriedener
mit mir. Vielmehr haben alle Deine Erziehungsmaßnahmen genau getroffen; keinem
Griff bin ich ausgewichen; so wie ich bin, bin ich (von den Grundanlagen und
der Einwirkung des Lebens natürlich abgesehn) das Ergebnis Deiner Erziehung und
meiner Folgsamkeit. Daß dieses Ergebnis Dir trotzdem peinlich ist, ja daß Du Dich
unbewußt weigerst es als Dein Erziehungsergebnis anzuerkennen, liegt eben
daran, daß Deine Hand und mein Material einander so fremd gewesen sind. Du
sagtest: "Kein Wort der Widerrede! " und wolltest damit die Dir
unangenehmen Gegenkräfte in mir zum Schweigen bringen, diese Einwirkung war
aber für mich zu stark, ich war zu folgsam, ich verstummte gänzlich, verkroch
mich vor Dir, und wagte mich erst zu regen, wenn ich so weit von Dir entfernt
war, daß Deine Macht, wenigstens direkt, nicht mehr hinreichte. Du aber standst
davor und alles schien Dir wieder "contra" zu sein, während es nur
selbstverständliche Folge Deiner Stärke und meiner Schwäche war.
Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden
rednerischen Mittel bei der Erziehung waren: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses
Lachen und - merkwürdiger Weise - Selbstbeklagung.
Daß Du mich direkt und mit ausdrücklichen Schimpfwörtern beschimpft hättest,
kann ich mich nicht erinnern. Es war auch nicht nötig, Du hattest so viele andere
Mittel, auch flogen im Gespräch zuhause und besonders im Geschäft die
Schimpfwörter rings um mich in solchen Mengen auf andere nieder, daß ich als
kleiner Junge manchmal davon fast betäubt war und keinen Grund hatte, sie nicht
auch auf mich zu beziehn, denn die Leute, die Du beschimpftest, waren gewiß
nicht schlechter als ich und Du warst gewiß mit ihnen nicht unzufriedener als
mit mir. Und auch hier war wieder Deine rätselhafte Unschuld und
Unangreifbarkeit, Du schimpftest ohne Dir irgendwelche Bedenken deshalb zu
machen, ja Du verurteiltest das Schimpfen bei andern und verbotest es.
Das Schimpfen verstärktest Du mit Drohen und das galt nun auch schon mir.
Schrecklich war mir z. B. dieses: "ich zerreiße Dich wie einen
Fisch", trotzdem ich ja wußte, daß dem nichts Schlimmeres nachfolgte (als
kleines Kind wußte ich das allerdings nicht) aber es entsprach fast meinen
Vorstellungen von Deiner Macht, daß Du auch das imstande gewesen wärest.
Schrecklich war es auch, wenn Du schreiend um den Tisch herumliefst, um einen
zu fassen, offenbar gar nicht fassen wolltest, aber doch so tatest und die
Mutter einen schließlich scheinbar rettete. Wieder hatte man einmal, so schien
es dem Kind, das Leben durch Deine Gnade behalten und trug es als Dein
unverdientes Geschenk weiter. Hierher gehören auch die Drohungen wegen der
Folgen des Ungehorsams. Wenn ich etwas zu tun anfieng, was Dir nicht gefiel und
Du drohtest mir mit dem Mißerfolg, so war die Ehrfurcht vor Deiner Meinung so
groß, daß damit der Mißerfolg, wenn auch vielleicht erst für eine spätere Zeit,
unaufhaltsam war. Ich verlor das Vertrauen zu eigenem Tun. Ich war unbeständig,
zweifelhaft. Je älter ich wurde, desto größer war das Material, das Du mir zum
Beweis meiner Wertlosigkeit entgegenhalten konntest, allmählich bekamst Du in
gewisser Hinsicht wirklich Recht. Wieder hüte ich mich zu behaupten, daß ich
nur durch Dich so wurde; Du verstärktest nur, was war, aber Du verstärktest es
sehr, weil Du eben mir gegenüber sehr mächtig warst und alle Macht dazu
verwendetest.
Ein besonderes Vertrauen hattest Du zur Erziehung durch Ironie, sie entsprach
auch am besten Deiner Überlegenheit über mich. Eine Ermahnung hatte bei Dir
gewöhnlich diese Form: "Kannst Du das nicht so und so machen? Das ist Dir
wohl schon zu viel? Dazu hast Du natürlich keine Zeit?" und ähnlich. Dabei
jede solche Frage begleitet von bösem Lachen und bösem Gesicht. Man wurde
gewissermaßen schon bestraft, ehe man noch wußte, daß man etwas Schlechtes
getan hatte. Aufreizend waren auch jene Zurechtweisungen, wo man als dritte
Person behandelt, also nicht einmal des bösen Ansprechens gewürdigt wurde; wo
Du also etwa formell zur Mutter sprachst, aber eigentlich zu mir, der dabei
saß, z. B.: "Das kann man vom Herrn Sohn natürlich nicht haben" und
dgl. (Das bekam dann sein Gegenspiel darin, daß ich z. B. nicht wagte und
später aus Gewohnheit gar nicht mehr daran dachte, Dich direkt zu fragen, wenn
die Mutter dabei war. Es war dem Kind viel ungefährlicher, die neben Dir
sitzende Mutter über Dich auszufragen, man fragte dann die Mutter: "Wie
geht es dem Vater?" und sicherte sich so vor Überraschungen.) Es gab
natürlich auch Fälle, wo man mit der ärgsten Ironie sehr einverstanden war,
nämlich wenn sie einen andern betraf, z. B. die Elli, mit der ich jahrelang
böse war. Es war für mich ein Fest der Bosheit und Schadenfreude, wenn es von
ihr fast bei jedem Essen etwa hieß: "Zehn Meter weit vom Tisch muß sie
sitzen, die breite Mad" und wenn Du dann böse auf Deinem Sessel ohne die
leiseste Spur von Freundlichkeit oder Laune, sondern als erbitterter Feind
übertrieben ihr nachzumachen suchtest, wie äußerst widerlich für Deinen
Geschmack sie dasaß. Wie oft hat sich das und ähnliches wiederholen müssen, wie
wenig hast Du im Tatsächlichen dadurch erreicht. Ich glaube, es lag daran, daß
der Aufwand von Zorn und Bösesein zur Sache selbst in keinem richtigen
Verhältnis zu sein schien, man hatte nicht das Gefühl, daß der Zorn durch diese
Kleinigkeit des Weit-vom-Tische-sitzens erzeugt sei, sondern daß er in seiner
ganzen Größe von vornherein vorhanden war und nur zufällig gerade diese Sache
als Anlaß zum Losbrechen genommen habe. Da man überzeugt war, daß sich ein
Anlaß jedenfalls finden würde, nahm man sich nicht besonders zusammen, auch
stumpfte man unter der fortwährenden Drohung ab; daß man nicht geprügelt wurde,
dessen war man ja allmählich fast sicher. Man wurde ein mürrisches,
unaufmerksames, ungehorsames Kind, immer auf eine Flucht, meist eine innere,
bedacht. So littest Du, so litten wir. Du hattest von Deinem Standpunkt ganz recht,
wenn Du mit zusammengebissenen Zähnen und dem gurgelnden Lachen, welches dem
Kind zum erstenmal höllische Vorstellungen vermittelt hatte, bitter zu sagen
pflegtest (wie erst letzthin wegen eines Konstantinopler Briefes): "Das
ist eine Gesellschaft! "
Ganz unverträglich mit dieser Stellung zu Deinen Kindern schien es zu sein,
wenn Du, was ja sehr oft geschah, öffentlich Dich beklagtest. Ich gestehe, daß
ich als Kind (später wohl) dafür gar kein Gefühl hatte und nicht verstand, wie
Du überhaupt erwarten konntest, Mitgefühl zu finden. Du warst so riesenhaft in
jeder Hinsicht, was konnte Dir an unserem Mitleid liegen oder gar an unserer
Hilfe. Die mußtest Du doch eigentlich verachten, wie uns selbst so oft. Ich
glaubte daher den Klagen nicht und suchte irgendeine geheime Absicht hinter
ihnen. Erst später begriff ich, daß Du wirklich durch die Kinder sehr littest,
damals aber, wo die Klagen noch unter anderen Umständen einen kindlichen,
offenen, bedenkenlosen, zu jeder Hilfe bereiten Sinn hätten antreffen können,
mußten sie mir wieder nur überdeutliche Erziehungs- und Demütigungsmittel sein,
als solche an sich nicht sehr stark, aber mit der schädlichen Nebenwirkung, daß
das Kind sich gewöhnte, gerade Dinge nicht sehr ernst zu nehmen, die es ernst
hätte nehmen sollen.
Es gab glücklicher Weise davon allerdings auch Ausnahmen, meistens wenn Du
schweigend littest und Liebe und Güte mit ihrer Kraft alles Entgegenstehende
überwand und unmittelbar ergriff. Selten war das allerdings, aber es war
wunderbar. Etwa wenn ich Dich früher in heißen Sommern mittags nach dem Essen
im Geschäft müde ein wenig schlafen sah, den Elbogen auf dem Pult, oder wenn Du
Sonntags abgehetzt zu uns in die Sommerfrische kamst; oder wenn Du bei einer
schweren Krankheit der Mutter zitternd vom Weinen Dich am Bücherkasten
festhieltest; oder wenn Du während meiner letzten Krankheit leise zu mir in
Ottlas Zimmer kamst, auf der Schwelle bliebst, nur den Hals strecktest, um mich
im Bett zu sehn und aus Rücksicht nur mit der Hand grüßtest. In solchen Zeiten
legte man sich hin und weinte vor Glück und weint jetzt wieder, während man es
schreibt.
Du hast auch eine besonders schöne, sehr selten zu sehende Art eines stillen,
zufriedenen, gutheißenden Lächelns, das den, dem es gilt, ganz glücklich machen
kann. Ich kann mich nicht erinnern, daß es in meiner Kindheit ausdrücklich mir
zuteil geworden wäre, aber es dürfte wohl geschehen sein, denn warum solltest
Du es mir damals verweigert haben, da ich Dir noch unschuldig schien und Deine
große Hoffnung war. Übrigens haben auch solche freundliche Eindrücke auf die
Dauer nichts anderes erzielt, als mein Schuldbewußtsein vergrößert und die Welt
mir noch unverständlicher gemacht.
Lieber hielt ich mich ans Tatsächliche und Fortwährende. Um mich Dir gegenüber
nur ein wenig zu behaupten, zum Teil auch aus einer Art Rache fing ich bald an
kleine Lächerlichkeiten, die ich an Dir bemerkte, zu beobachten, zu sammeln, zu
übertreiben. Wie Du z. B. leicht Dich von meist nur scheinbar höher stehenden
Personen blenden ließest und davon immerfort erzählen konntest, etwa von
irgendeinem kais. Rat oder dgl. (andererseits tat mir etwas derartiges auch
weh, daß Du, mein Vater, solche nichtige Bestätigungen Deines Wertes zu
brauchen glaubtest und mit ihnen groß tatest). Oder ich beobachtete Deine
Vorliebe für unanständige, möglichst laut herausgebrachte Redensarten, über die
Du lachtest, als hättest Du etwas besonders Vortreffliches gesagt, während es
eben nur eine platte, kleine Unanständigkeit war (gleichzeitig war es allerdings
auch wieder eine mich beschämende Äußerung Deiner Lebenskraft). Solcher
verschiedener Beobachtungen gab es natürlich eine Menge; ich war glücklich über
sie, es gab für mich Anlaß zu Getuschel und Spaß, Du bemerktest es manchmal,
ärgertest Dich darüber, hieltest es für Bosheit, Respektlosigkeit, aber glaube
mir, es war nichts anderes für mich, als ein übrigens untaugliches Mittel zur
Selbsterhaltung, es waren Scherze, wie man sie über Götter und Könige
verbreitet, Scherze, die mit dem tiefsten Respekt nicht nur sich verbinden
lassen, sondern sogar zu ihm gehören.
Auch Du hast übrigens, entsprechend Deiner ähnlichen Lage mir gegenüber, eine
Art Gegenwehr versucht. Du pflegtest darauf hinzuweisen, wie übertrieben gut es
mir gieng und wie gut ich eigentlich behandelt worden bin. Das ist richtig, ich
glaube aber nicht, daß es mir unter den einmal vorhandenen Umständen im
Wesentlichen genützt hat.
Es ist wahr, daß die Mutter grenzenlos gut zu mir war, aber alles das stand für
mich in Beziehung zu Dir, also in keiner guten Beziehung. Die Mutter hatte
unbewußt die Rolle eines Treibers in der Jagd. Wenn schon Deine Erziehung in
irgendeinem unwahrscheinlichen Fall mich durch Erzeugung von Trotz, Abneigung
oder gar Haß auf eigene Füße hätte stellen können, so glich das die Mutter
durch Gutsein, durch vernünftige Rede (sie war im Wirrwarr der Kindheit das
Urbild der Vernunft), durch Fürbitte wieder aus und ich war wieder in Deinen
Kreis zurückgetrieben, aus dem ich sonst vielleicht, Dir und mir zum Vorteil
ausgebrochen wäre. Oder es war so, daß es zu keiner eigentlichen Versöhnung
kam, daß die Mutter mich vor Dir bloß im Geheimen schützte, mir im Geheimen
etwas gab, etwas erlaubte, dann war ich wieder vor Dir das lichtscheue Wesen,
der Betrüger, der Schuldbewußte, der wegen seiner Nichtigkeit selbst zu dem,
was er für sein Recht hielt, nur auf Schleichwegen kommen konnte. Natürlich
gewöhnte ich mich dann auf diesen Wegen auch das zu suchen, worauf ich selbst
meiner Meinung nach kein Recht hatte. Das war wieder Vergrößerung des
Schuldbewußtseins.
Es ist auch wahr, daß Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das
Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger,
ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn
einer gehenkt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er tot und es ist
alles vorüber. Wenn er aber alle Vorbereitungen zum Gehenktwerden miterleben
muß und erst wenn ihm die Schlinge vor dem Gesicht hängt, von seiner
Begnadigung erfährt, so kann er sein Leben lang daran zu leiden haben. Überdies
sammelte sich aus diesen vielen Malen, wo ich Deiner deutlich gezeigten Meinung
nach Prügel verdient hätte, ihnen aber aus Deiner Gnade noch knapp entgangen
war, wieder nur ein großes Schuldbewußtsein an. Von allen Seiten her kam ich in
Deine Schuld.
Seit jeher machtest Du mir zum Vorwurf (undzwar mir allein oder vor andern; für
das Demütigende des Letzteren hattest Du kein Gefühl, die Angelegenheiten
Deiner Kinder waren immer öffentliche) daß ich dank Deiner Arbeit ohne alle
Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle lebte. Ich denke da an Bemerkungen, die in
meinem Gehirn förmlich Furchen gezogen haben müssen, wie: "Schon mit
sieben Jahren mußte ich mit dem Karren durch die Dörfer fahren. " "Wir
mußten alle in einer Stube schlafen. " "Wir waren glücklich, wenn wir
Erdäpfel hatten. " "Jahrelang hatte ich wegen ungenügender
Winterkleidung offene Wunden an den Beinen. " "Als kleiner Junge
mußte ich schon nach Pisek ins Geschäft." "Von zuhause bekam ich gar
nichts, nicht einmal beim Militär, ich schickte noch Geld nachhause. "
"Aber trotzdem, trotzdem - der Vater war mir immer der Vater. Wer weiß das
heute! Was wissen die Kinder! Das hat niemand gelitten! Versteht das heute ein
Kind?" Solche Erzählungen hätten unter andern Verhältnissen ein
ausgezeichnetes Erziehungsmittel sein können, sie hätten zum Überstehen der
gleichen Plagen und Entbehrungen, die der Vater durchgemacht hatte, aufmuntern
und kräftigen können. Aber das wolltest Du doch gar nicht, die Lage war ja eben
durch das Ergebnis Deiner Mühe eine andere geworden, Gelegenheit sich in der
Weise auszuzeichnen, wie Du es getan hattest, gab es nicht. Eine solche
Gelegenheit hätte man erst durch Gewalt und Umsturz schaffen müssen, man hätte
von zuhause ausbrechen müssen (vorausgesetzt daß man die Entschlußfähigkeit und
Kraft dazu gehabt hätte und die Mutter nicht ihrerseits mit anderen Mitteln
dagegen gearbeitet hätte). Aber das alles wolltest Du doch gar nicht, das
bezeichnetest Du als Undankbarkeit, Überspanntheit, Ungehorsam, Verrat,
Verrücktheit. Während Du also von einer Seite durch Beispiel, Erzählung und
Beschämung dazu locktest, verbotest Du es auf der andern Seite
allerstrengstens. Sonst hättest Du z. B., von den Nebenumständen abgesehn, von
Ottlas Zürauer Abenteuer eigentlich entzückt sein müssen. Sie wollte auf das
Land, von dem Du gekommen warst, sie wollte Arbeit und Entbehrungen haben, wie
Du sie gehabt hattest, sie wollte nicht Deine Arbeitserfolge genießen wie auch
Du von Deinem Vater unabhängig gewesen bist. Waren das so schreckliche
Absichten? So fern Deinem Beispiel und Deiner Lehre? Gut, die Absichten Ottlas
mißlangen schließlich im Ergebnis, wurden vielleicht etwas lächerlich, mit
zuviel Lärm ausgeführt, sie nahm nicht genug Rücksicht auf ihre Eltern. War das
aber ausschließlich ihre Schuld, nicht auch die Schuld der Verhältnisse und vor
allem dessen, daß Du ihr so entfremdet warst? War sie Dir etwa (wie Du Dir
später selbst einreden wolltest) im Geschäft weniger entfremdet, als nachher in
Zürau? Und hättest Du nicht ganz gewiß die Macht gehabt (vorausgesetzt daß Du
Dich dazu hättest überwinden können) durch Aufmunterung, Rat und Aufsicht,
vielleicht sogar nur durch Duldung aus diesem Abenteuer etwas sehr Gutes zu
machen?
Anschließend an solche Erfahrungen pflegtest Du in bitterem Scherz zu sagen,
daß es uns zu gut ging. Aber dieser Scherz ist in gewissem Sinn keiner. Das was
Du Dir erkämpfen mußtest, bekamen wir aus Deiner Hand, aber den Kampf um das
äußere Leben, der Dir sofort zugänglich war und der natürlich auch uns nicht
erspart bleibt, den müssen wir uns erst spät, mit Kinderkraft im Mannesalter
erkämpfen. Ich sage nicht, daß unsere Lage deshalb unbedingt ungünstiger ist
als es Deine war, sie ist jener vielmehr wahrscheinlich gleichwertig (wobei
allerdings die Grundanlagen nicht verglichen sind) nur darin sind wir im
Nachteil, daß wir mit unserer Not uns nicht rühmen und niemanden mit ihr
demütigen können, wie Du es mit Deiner Not getan hast. Ich leugne auch nicht,
daß es möglich gewesen wäre, daß ich die Früchte Deiner großen und
erfolgreichen Arbeit wirklich richtig hätte genießen, verwerten und mit ihnen
zu Deiner Freude hätte weiterarbeiten können, dem aber stand eben unsere
Entfremdung entgegen. Ich konnte, was Du gabst, genießen, aber nur in
Beschämung, Müdigkeit, Schwäche, Schuldbewußtsein. Deshalb konnte ich Dir für
alles nur bettlerhaft dankbar sein, durch die Tat nicht.
Das nächste äußere Ergebnis dieser ganzen Erziehung war, daß ich alles floh,
was nur von der Ferne an Dich erinnerte. Zuerst das Geschäft. An und für sich
besonders in der Kinderzeit, solange es ein Gassengeschäft war, hätte es mich
sehr freuen müssen, es war so lebendig, abends beleuchtet, man sah, man hörte
viel, konnte hie und da helfen, sich auszeichnen, vor allem aber Dich bewundern
in Deinen großartigen kaufmännischen Talenten, wie Du verkauftest, Leute
behandeltest, Späße machtest, unermüdlich warst, in Zweifelfällen sofort die
Entscheidung wußtest u. s. w.; noch wie Du einpacktest oder eine Kiste
aufmachtest, war ein sehenswertes Schauspiel und das ganze alles in allem gewiß
nicht die schlechteste Kinderschule. Aber da Du allmählich von allen Seiten
mich erschrecktest und Geschäft und Du sich mir deckten, war mir auch das
Geschäft nicht mehr behaglich. Dinge, die mir dort zuerst selbstverständlich
gewesen waren, quälten, beschämten mich, besonders Deine Behandlung des
Personals. Ich weiß nicht, vielleicht ist sie in den meisten Geschäften so
gewesen (in der Assicurazioni Generali z. B. war sie zu meiner Zeit wirklich
ähnlich, ich erklärte dort dem Direktor, nicht ganz wahrheitsgemäß, aber auch
nicht ganz erlogen meine Kündigung damit, daß ich das Schimpfen, das übrigens
mich direkt gar nicht betroffen hatte, nicht ertragen könne; ich war darin zu
schmerzhaft empfindlich schon vom Hause her), aber die andern Geschäfte
kümmerten mich in der Kinderzeit nicht. Dich aber hörte und sah ich im Geschäft
schreien, schimpfen und wüten, wie es meiner damaligen Meinung nach in der
ganzen Welt nicht wieder vorkam. Und nicht nur Schimpfen, auch sonstige
Tyrannei. Wie Du z. B. Waren, die Du mit andern nicht verwechselt haben
wolltest, mit einem Ruck vom Pult hinunterwarfst - nur die Besinnungslosigkeit
Deines Zorns entschuldigte Dich ein wenig - und der Kommis sie aufheben mußte.
Oder Deine ständige Redensart hinsichtlich eines lungenkranken Kommis: "Er
soll krepieren, der kranke Hund! " Du nanntest die Angestellten
"bezahlte Feinde", das waren sie auch, aber noch ehe sie es geworden
waren, schienst Du mir ihr "zahlender Feind" zu sein. Dort bekam ich
auch die große Lehre, daß Du ungerecht sein konntest; an mir selbst hätte ich
es nicht so bald bemerkt, da hatte sich ja zuviel Schuldgefühl angesammelt, das
Dir recht gab; aber dort waren nach meiner, später natürlich ein wenig aber nicht
allzusehr korrigierten Kindermeinung fremde Leute, die doch für uns arbeiteten
und dafür in fortwährender Angst vor Dir leben mußten. Natürlich übertrieb ich
da undzwar deshalb, weil ich ohne weiters annahm, Du wirkest auf die Leute
ebenso schrecklich wie auf mich. Wenn das so gewesen wäre, hätten sie wirklich
nicht leben können; da sie aber erwachsene Leute mit meist ausgezeichneten
Nerven waren, schüttelten sie das Schimpfen ohne Mühe von sich ab und es
schadete Dir schließlich viel mehr als ihnen. Mir aber machte es das Geschäft
unleidlich, es erinnerte mich allzusehr an mein Verhältnis zu Dir: Du warst
ganz abgesehn vom Unternehmerinteresse und abgesehn von Deiner Herrschsucht
schon als Geschäftsmann allen, die jemals bei Dir gelernt haben, so sehr überlegen,
daß Dich keine ihrer Leistungen befriedigen konnte, ähnlich ewig unbefriedigt
mußtest Du auch von mir sein. Deshalb gehörte ich notwendig zur Partei des
Personals, übrigens auch deshalb weil ich schon aus Ängstlichkeit nicht
begriff, wie man einen Fremden so beschimpfen konnte und darum aus
Ängstlichkeit das meiner Meinung nach fürchterlich aufgebrachte Personal
irgendwie mit Dir, mit unserer Familie schon um meiner eigenen Sicherheit
willen aussöhnen wollte. Dazu genügte nicht mehr gewöhnliches anständiges
Benehmen gegenüber dem Personal, nicht einmal mehr bescheidenes Benehmen,
vielmehr mußte ich demütig sein, nicht nur zuerst grüßen, sondern womöglich
auch noch den Gegengruß abwehren. Und hätte ich, die unbedeutende Person, ihnen
unten die Füße geleckt, es wäre noch immer kein Ausgleich dafür gewesen, wie
Du, der Herr, oben auf sie loshacktest. Dieses Verhältnis, in das ich hier zu
Mitmenschen trat, wirkte über das Geschäft hinaus und in die Zukunft weiter
(etwas ähnliches, aber nicht so gefährlich und tiefgreifend wie bei mir, ist z.
B. auch Ottlas Vorliebe für den Verkehr mit armen Leuten, das Dich so ärgernde
Zusammensitzen mit den Dienstmädchen u. dgl.). Schließlich fürchtete ich mich
fast vor dem Geschäft und jedenfalls war es schon längst nicht mehr meine
Sache, ehe ich noch ins Gymnasium kam und dadurch noch weiter davon fortgeführt
wurde. Auch schien es mir für meine Fähigkeiten ganz unerschwinglich, da es,
wie Du sagtest, selbst die Deinigen verbrauchte. Du suchtest dann (für mich ist
das heute rührend und beschämend) aus meiner Dich doch sehr schmerzenden
Abneigung gegen das Geschäft, gegen Dein Werk doch noch ein wenig Süßigkeit für
Dich zu ziehn, indem Du behauptetest, mir fehle der Geschäftssinn, ich habe
höhere Ideen im Kopf u. dgl. Die Mutter freute sich natürlich über diese
Erklärung, die Du Dir abzwangst, und auch ich in meiner Eitelkeit und Not ließ
mich davon beeinflussen. Wären es aber wirklich nur oder hauptsächlich die
"höheren Ideen" gewesen, die mich vom Geschäft (das ich jetzt, aber
erst jetzt, ehrlich und tatsächlich hasse) abbrachten, sie hätten sich anders
äußern müssen, als daß sie mich ruhig und ängstlich durchs Gymnasium und durch
das Jusstudium schwimmen ließen, bis ich beim Beamtenschreibtisch endgiltig
landete.
Wollte ich vor Dir fliehn, mußte ich auch vor der Familie fliehn, selbst vor
der Mutter. Man konnte bei ihr zwar immer Schutz finden, doch nur in Beziehung
zu Dir. Zu sehr liebte sie Dich und war Dir zu sehr treu ergeben, als daß sie
in dem Kampf des Kindes eine selbständige geistige Macht für die Dauer hätte
sein können. Ein richtiger Instinkt des Kindes übrigens, denn die Mutter wurde
Dir mit den Jahren immer noch enger verbunden; während sie immer, was sie
selbst betraf, ihre Selbständigkeit in kleinsten Grenzen schön und zart und
ohne Dich jemals wesentlich zu kränken bewahrte, nahm sie doch mit den Jahren
immer vollständiger, mehr im Gefühl, als im Verstand, Deine Urteile und
Verurteilungen hinsichtlich der Kinder blindlings über, besonders in dem
allerdings schweren Fall der Ottla. Freilich muß man immer im Gedächtnis
behalten, wie quälend und bis zum letzten aufreibend die Stellung der Mutter in
der Familie war. Sie hat sich im Geschäft, im Haushalt geplagt, alle
Krankheiten der Familie doppelt mitgelitten, aber die Krönung alles dessen war
das, was sie in ihrer Zwischenstellung zwischen uns und Dir gelitten hat. Du
bist immer liebend und rücksichtsvoll zu ihr gewesen, aber in dieser Hinsicht
hast Du sie ganz genau so wenig geschont, wie wir sie geschont haben.
Rücksichtslos haben wir auf sie eingehämmert, Du von Deiner Seite, wir von
unserer. Es war eine Ablenkung, man dachte an nichts Böses, man dachte nur an
den Kampf, den Du mit uns, den wir mit Dir führten, und auf der Mutter tobten
wir uns aus. Es war auch kein guter Beitrag zur Kindererziehung, wie Du sie -
ohne jede Schuld Deinerseits natürlich - unseretwegen quältest. Es
rechtfertigte sogar scheinbar unser sonst nicht zu rechtfertigendes Benehmen
ihr gegenüber. Was hat sie von uns Deinetwegen und von Dir unseretwegen
gelitten, ganz ungerechnet jene Fälle, wo Du recht hattest, weil sie uns
verzog, wenn auch selbst dieses "Verziehn" manchmal nur eine stille
unbewußte Gegendemonstration gegen Dein System gewesen sein mag. Natürlich
hätte die Mutter das alles nicht ertragen können, wenn sie nicht aus der Liebe
zu uns allen und aus dem Glück dieser Liebe die Kraft zum Ertragen genommen
hätte.
Die Schwestern giengen nur zum Teil mit mir. Am glücklichsten in ihrer Stellung
zu Dir war Valli. Am nächsten der Mutter stehend, fügte sie sich Dir auch
ähnlich, ohne viel Mühe und Schaden. Du nahmst sie aber auch, eben in
Erinnerung an die Mutter, freundlicher hin, trotzdem wenig Kafka'sches Material
in ihr war. Aber vielleicht war Dir gerade das recht; wo nichts Kafka'sches
war, konntest selbst Du nichts derartiges verlangen; Du hattest auch nicht, wie
bei uns andern das Gefühl, daß hier etwas verloren gieng, das mit Gewalt
gerettet werden müßte. Übrigens magst Du das Kafka'sche, soweit es sich in
Frauen geäußert hat, niemals besonders geliebt haben. Das Verhältnis Vallis zu
Dir wäre sogar vielleicht noch freundlicher geworden, wenn wir andern es nicht
ein wenig gestört hätten.
Die Elli ist das einzige Beispiel für das fast vollständige Gelingen eines
Durchbruches aus Deinem Kreis. Von ihr hätte ich es in ihrer Kindheit am
wenigsten erwartet. Sie war doch ein so schwerfälliges, müdes, furchtsames,
verdrossenes, schuldbewußtes, überdemütiges, boshaftes, faules, genäschiges,
geiziges Kind, ich konnte sie kaum ansehn, gar nicht ansprechen, so sehr
erinnerte sie mich an mich selbst, so sehr ähnlich stand sie unter dem gleichen
Bann der Erziehung. Besonders ihr Geiz war mir abscheulich, da ich ihn
womöglich noch stärker hatte. Geiz ist ja eines der verläßlichsten Anzeichen tiefen
Unglücklichseins; ich war so unsicher aller Dinge, daß ich tatsächlich nur das
besaß, was ich schon in den Händen oder im Mund hielt oder was wenigstens auf
dem Wege dorthin war und gerade das nahm sie, die in ähnlicher Lage war, mir am
liebsten fort. Aber das alles änderte sich, als sie in jungen Jahren - das ist
das wichtigste - von zuhause weggieng, heiratete, Kinder bekam, sie wurde
fröhlich, unbekümmert, mutig, freigebig, uneigennützig, hoffnungsvoll. Fast
unglaublich ist es, wie Du eigentlich diese Veränderung gar nicht bemerkt und
jedenfalls nicht nach Verdienst bewertet hast, so geblendet bist Du von dem
Groll, den Du gegen Elli seit jeher hattest und im Grunde unverändert hast, nur
daß dieser Groll jetzt viel weniger aktuell geworden ist, da Elli nicht mehr
bei uns wohnt und außerdem Deine Liebe zu Felix und die Zuneigung zu Karl ihn
unwichtiger gemacht haben. Nur Gerti muß ihn manchmal noch entgelten.
Von Ottla wage ich kaum zu
schreiben, ich weiß, ich setze damit die ganze erhoffte Wirkung des Briefes
aufs Spiel. Unter gewöhnlichen Umständen, also wenn sie nicht etwa in besondere
Not oder Gefahr käme, hast Du für sie nur Haß; Du hast mir ja selbst
zugestanden, daß sie Deiner Meinung nach mit Absicht Dir immerfort Leid und
Ärger macht und während Du ihretwegen leidest, ist sie befriedigt und freut
sich. Also eine Art Teufel. Was für eine ungeheuere Entfremdung, noch größer
als zwischen Dir und mir, muß zwischen Dir und ihr eingetreten sein, damit eine
so ungeheuere Verkennung möglich wird. Sie ist so weit von Dir, daß Du sie kaum
mehr siehst, sondern ein Gespenst an die Stelle setzt, wo Du sie vermutest. Ich
gebe zu, daß Du es mit ihr besonders schwer hattest. Ich durchschaue ja den
sehr komplicierten Fall nicht ganz, aber jedenfalls war hier etwas wie eine Art
Löwy, ausgestattet mit den besten Kafka'schen Waffen. Zwischen uns war es kein
eigentlicher Kampf; ich war bald erledigt; was übrig blieb, war Flucht,
Verbitterung, Trauer, innerer Kampf. Ihr zwei aber waret immer in
Kampfstellung, immer frisch, immer bei Kräften. Ein ebenso großartiger, wie
trostloser Anblick. Zu allererst seid Ihr Euch ja gewiß sehr nahe gewesen, denn
noch heute ist von uns vier Ottla vielleicht die reinste Darstellung der Ehe
zwischen Dir und der Mutter und der Kräfte, die sich da verbanden. Ich weiß
nicht, was Euch um das Glück der Eintracht zwischen Vater und Kind gebracht
hat, es liegt mir nur nahe zu glauben, daß die Entwicklung ähnlich war, wie bei
mir. Auf Deiner Seite die Tyrannei Deines Wesens, auf ihrer Seite Löwy'scher
Trotz, Empfindlichkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Unruhe und alles das gestützt
durch das Bewußtsein Kafka'scher Kraft. Wohl habe auch ich sie beeinflußt, aber
kaum aus eigenem Antrieb, sondern durch die bloße Tatsache meines Daseins.
Übrigens kam sie doch als Letzte schon in fertige Machtverhältnisse hinein und
konnte sich aus dem vielen bereitliegenden Material ihr Urteil selbst bilden.
Ich kann mir sogar denken, daß sie in ihrem Wesen eine Zeit lang geschwankt
hat, ob sie sich Dir an die Brust werfen soll oder den Gegnern, offenbar hast
Du damals etwas versäumt und sie zurückgestoßen, Ihr wäret aber, wenn es eben
möglich gewesen wäre, ein prachtvolles Paar an Eintracht geworden. Ich hätte
dadurch zwar einen Verbündeten verloren, aber der Anblick von Euch beiden hätte
mich reich entschädigt, auch wärest ja Du durch das unabsehbare Glück,
wenigstens in einem Kind volle Befriedigung zu finden, sehr zu meinen Gunsten
verwandelt worden. Das alles ist heute allerdings nur ein Traum. Ottla hat
keine Verbindung mit dem Vater, muß ihren Weg allein suchen, wie ich, und um
das Mehr an Zuversicht, Selbstvertrauen, Gesundheit, Bedenkenlosigkeit, das sie
im Vergleich mit mir hat, ist sie in Deinen Augen böser und verräterischer als
ich. Ich verstehe das; von Dir aus gesehen kann sie nicht anders sein. Ja sie
selbst ist imstande, mit Deinen Augen sich anzusehn, Dein Leid mitzufühlen und
darüber - nicht verzweifelt zu sein, Verzweiflung ist meine Sache - aber sehr
traurig zu sein. Du siehst uns zwar, in scheinbarem Widerspruch hiezu, oft
beisammen, wir flüstern, lachen, hie und da hörst Du Dich erwähnen. Du hast den
Eindruck von frechen Verschwörern. Merkwürdige Verschwörer. Du bist allerdings
ein Hauptthema unserer Gespräche, wie unseres Denkens seit jeher, aber
wahrhaftig nicht, um etwas gegen Dich auszudenken, sitzen wir beisammen,
sondern um mit aller Anstrengung, mit Spaß, mit Ernst, mit Liebe, Trotz, Zorn,
Widerwille, Ergebung, Schuldbewußtsein, mit allen Kräften des Kopfes und
Herzens diesen schrecklichen Proceß, der zwischen uns und Dir schwebt, in allen
Einzelnheiten, von allen Seiten, bei allen Anlässen, von fern und nah gemeinsam
durchzusprechen, diesen Proceß, in dem Du immerfort Richter zu sein behauptest,
während Du, wenigstens zum größten Teil (hier lasse ich die Tür allen Irrtümern
offen, die mir natürlich begegnenkönnen), ebenso schwache und verblendete
Partei bist, wie wir.
Ein im Zusammenhang des Ganzen lehrreiches Beispiel Deiner erzieherischen
Wirkung war Irma. Einerseits war sie doch eine Fremde, kam schon erwachsen in
Dein Geschäft, hatte mit Dir hauptsächlich als ihrem Chef zu tun, war also nur
zum Teil und in einem schon widerstandsfähigen Alter Deinem Einfluß ausgesetzt;
andererseits aber war sie doch auch eine Blutsverwandte, verehrte in Dir den
Bruder ihres Vaters und Du hattest über sie viel mehr als die bloße Macht eines
Chefs. Und trotzdem ist sie, die in ihrem schwachen Körper so tüchtig, klug,
fleißig, bescheiden, vertrauenswürdig, uneigennützig, treu war, die Dich als
Onkel liebte und als Chef bewunderte, die in andern Posten vorher und nachher
sich bewährte - Dir keine sehr gute Beamtin gewesen. Sie war eben, natürlich
auch von uns hingedrängt, Dir gegenüber nahe der Kinderstellung und so groß war
noch ihr gegenüber die umbiegende Macht Deines Wesens, daß sich bei ihr
(allerdings nur Dir gegenüber und, hoffentlich, ohne das tiefere Leid des
Kindes) Vergeßlichkeit, Nachlässigkeit, Galgenhumor, vielleicht sogar ein wenig
Trotz, soweit sie dessen überhaupt fähig war, entwickelten, wobei ich gar nicht
in Rechnung stelle, daß sie kränklich gewesen ist, auch sonst nicht sehr
glücklich war und eine trostlose Häuslichkeit auf ihr lastete. Das für mich
Beziehungsreiche Deines Verhältnisses zu ihr hast Du in einem für uns klassisch
gewordenen, fast gotteslästerlichen, aber gerade für die Unschuld in Deiner
Menschenbehandlung sehr beweisenden Satz zusammengefaßt: "Die Gottselige
hat mir viel Schweinerei hinterlassen."
Ich könnte noch weitere Kreise Deines Einflusses und des Kampfes gegen ihn
beschreiben, doch käme ich hier schon ins Unsichere und müßte konstruieren,
außerdem wirst Du ja, je weiter Du von Geschäft und Familie Dich entfernst,
seit jeher desto freundlicher, nachgiebiger, höflicher, rücksichtsvoller,
teilnehmender (ich meine: auch äußerlich) ebenso wie ja z. B. auch ein
Selbstherrscher, wenn er einmal außerhalb der Grenzen seines Landes ist, keinen
Grund hat noch immer tyrannisch zu sein und sich gutmütig auch mit den niedrigsten
Leuten einlassen kann. Tatsächlich standest Du z. B. auf den Gruppenbildern aus
Franzensbad immer so groß und fröhlich zwischen den kleinen mürrischen Leuten,
wie ein König auf Reisen. Davon hätten allerdings auch die Kinder ihren Vorteil
haben können, nur hätten sie schon, was unmöglich war, in der Kinderzeit fähig
sein müssen, das zu erkennen und ich z. B. hätte nicht immerfort gewissermaßen
im innersten, strengsten, zuschnürenden Ring Deines Einflusses wohnen dürfen,
wie ich es ja wirklich getan habe.
Ich verlor dadurch nicht nur den Familiensinn, wie Du sagst, im Gegenteil, eher
hatte ich noch Sinn für die Familie, allerdings hauptsächlich negativ, für die
(natürlich nie zu beendigende) innere Ablösung von Dir. Die Beziehungen zu den
Menschen außerhalb der Familie litten aber durch Deinen Einfluß womöglich noch
mehr. Du bist durchaus im Irrtum wenn Du glaubst, für die andern Menschen tue
ich aus Liebe und Treue alles, für Dich und die Familie aus Kälte und Verrat
nichts. Ich wiederhole zum zehntenmal: ich wäre wahrscheinlich auch sonst ein
menschenscheuer ängstlicher Mensch geworden, aber von da ist noch ein langer
dunkler Weg dorthin, wohin ich wirklich gekommen bin. [Bisher habe ich in
diesem Brief verhältnismäßig weniges absichtlich verschwiegen, jetzt und später
werde ich aber einiges verschweigen müssen, was (vor Dir und mir) einzugestehn,
mir noch zu schwer ist. Ich sage das deshalb, damit Du, wenn das Gesamtbild hie
und da etwas undeutlich werden sollte, nicht glaubst, daß Mangel an Beweisen
daran schuld ist, es sind vielmehr Beweise da, die das Bild unerträglich kraß
machen könnten. Es ist nicht leicht darin eine Mitte zu finden.] Hier genügt es
übrigens an früheres zu erinnern: Ich hatte vor Dir das Selbstvertrauen
verloren, dafür ein grenzenloses Schuldbewußtsein eingetauscht. (In Erinnerung
an diese Grenzenlosigkeit schrieb ich von jemandem einmal richtig: "Er
fürchtet, die Scham werde ihn noch überleben. ") Ich konnte mich nicht
plötzlich verwandeln, wenn ich mit andern Menschen zusammenkam, ich kam
vielmehr ihnen gegenüber noch in tieferes Schuldbewußtsein, denn ich mußte ja,
wie ich schon sagte, das an ihnen gutmachen, was Du unter meiner
Mitverantwortung im Geschäft an ihnen verschuldet hattest. Außerdem hattest Du
ja gegen jeden, mit dem ich verkehrte, offen oder im geheimen etwas
einzuwenden, auch das mußte ich ihm abbitten. Das Mißtrauen, das Du mir in
Geschäft und Familie gegen die meisten Menschen beizubringen suchtest (nenne
mir einen in der Kinderzeit irgendwie für mich bedeutenden Menschen, den Du
nicht wenigstens einmal bis in den Grund hinunterkritisiert hättest) und das
Dich merkwürdigerweise gar nicht besonders beschwerte (Du warst eben stark
genug es zu ertragen, außerdem war es in Wirklichkeit vielleicht nur ein Emblem
des Herrschers) - dieses Mißtrauen, das sich mir Kleinem für die eigenen Augen
nirgends bestätigte, da ich überall nur unerreichbar ausgezeichnete Menschen
sah, wurde in mir zu Mißtrauen gegen mich selbst und zur fortwährenden Angst
vor allen andern. Dort konnte ich mich also im allgemeinen vor Dir gewiß nicht
retten. Daß Du Dich darüber täuschtest, lag vielleicht daran, daß Du ja von
meinem Menschenverkehr eigentlich gar nichts erfuhrst, und mißtrauisch und
eifersüchtig (leugne ich denn, daß Du mich lieb hast?) annahmst, daß ich mich
für den Entgang an Familienleben anderswo entschädigen müsse, da es doch
unmöglich wäre, daß ich draußen ebenso lebe. Übrigens hatte ich in dieser
Hinsicht gerade in meiner Kinderzeit noch einen gewissen Trost eben im
Mißtrauen zu meinem Urteil; ich sagte mir: "Du übertreibst doch, fühlst,
wie das die Jugend immer tut, Kleinigkeiten zu sehr als große Ausnahmen. "
Diesen Trost habe ich aber später bei steigender Weltübersicht fast verloren.
Ebenso wenig Rettung vor Dir fand ich im Judentum. Hier wäre ja an sich Rettung
denkbar gewesen, oder noch mehr, es wäre denkbar gewesen, daß wir uns beide im
Judentum gefunden hätten oder daß wir gar von dort einig ausgegangen wären.
Aber was war das für Judentum, das ich von Dir bekam! Ich habe im Laufe der
Jahre etwa auf dreierlei Art mich dazu gestellt.
Als Kind machte ich mir, in Übereinstimmung mit Dir Vorwürfe deshalb, weil ich
nicht genügend in den Tempel ging, nicht fastete u. s. w. Ich glaubte nicht
mir, sondern Dir ein Unrecht damit zu tun und Schuldbewußtsein, das ja immer
bereit war, durchlief mich.
Später als junger Mensch verstand ich nicht, wie Du mit dem Nichts von
Judentum, über das Du verfügtest, mir Vorwürfe machen konntest, daß ich (schon
aus Pietät, wie Du Dich ausdrücktest) nicht ein ähnliches Nichts auszuführen
mich anstrenge. Es war ja wirklich, soweit ich sehen konnte, ein Nichts, ein
Spaß, nicht einmal ein Spaß. Du giengst an vier Tagen im Jahr in den Tempel,
warst dort den Gleichgültigen zumindest näher, als jenen, die es ernst nahmen,
erledigtest geduldig die Gebete als Formalität, setztest mich manchmal dadurch
in Erstaunen, daß Du mir im Gebetbuch die Stelle aufmischen konntest, die
gerade recitiert wurde, im übrigen durfte ich, wenn ich nur (das war die
Hauptsache) im Tempel war, mich herumdrücken, wo ich wollte. Ich durchgähnte
und durchduselte also dort die vielen Stunden (so gelangweilt habe ich mich
später, glaube ich, nur noch in der Tanzstunde) und suchte mich möglichst an
den paar kleinen Abwechslungen zu freuen, die es dort gab, etwa wenn die
Bundeslade aufgemacht wurde, was mich immer an die Schießbuden erinnerte, wo
auch, wenn man in ein Schwarzes traf, eine Kastentüre sich aufmachte, nur daß
dort aber immer etwas Interessantes herauskam und hier nur immer wieder die
alten Puppen ohne Köpfe. Übrigens habe ich dort auch viel Furcht gehabt, nicht
nur wie selbstverständlich vor den vielen Leuten, mit denen man in nähere
Berührung kam, sondern auch deshalb, weil Du einmal nebenbei erwähntest, daß
auch ich zur Thora aufgerufen werden könne. Davor zitterte ich jahrelang. Sonst
aber wurde ich in meiner Langweile nicht wesentlich gestört, höchstens durch
die Barmizwe, die aber nur lächerliches Auswendiglernen verlangte, also nur zu
einer lächerlichen Prüfungsleistung führte, und dann, was Dich betrifft durch
kleine, wenig bedeutende Vorfälle, etwa wenn Du zur Thora gerufen wurdest und
dieses für mein Gefühl ausschließlich gesellschaftliche Ereignis gut
überstandest oder wenn Du bei der Seelengedächtnisfeier im Tempel bliebst und
ich weggeschickt wurde, was mir durch lange Zeit, offenbar wegen des
Weggeschicktwerdens und mangels jeder tieferen Teilnahme, lange das kaum bewußt
werdende Gefühl hervorrief, daß es sich hier um etwas Unanständiges handle. -
So war es im Tempel, zuhause war es womöglich noch ärmlicher und beschränkte
sich auf den ersten Sederabend, der immer mehr zu einer Komödie mit
Lachkrämpfen wurde, allerdings unter dem Einßuß der größer werdenden Kinder.
(Warum mußtest Du Dich diesem Einfluß fügen? Weil Du ihn hervorgerufen hast.)
Das war also das Glaubensmaterial, das mir überliefert wurde, dazu kam
höchstens noch die ausgestreckte Hand, die auf "die Söhne des Millionärs
Fuchs" hinwies, die an den hohen Feiertagen mit ihrem Vater im Tempel
waren. Wie man mit diesem Material etwas besseres tun könnte, als es möglichst
schnell loszuwerden, verstand ich nicht; gerade dieses Loswerden schien mir die
pietätvollste Handlung zu sein.
Noch später sah ich es aber doch wieder anders an und begriff, warum Du glauben
durftest, daß ich Dich auch in dieser Hinsicht böswillig verrate. Du hattest
aus der kleinen ghettoartigen Dorfgemeinde wirklich noch etwas Judentum
mitgebracht, es war nicht viel und verlor sich noch ein wenig in der Stadt und
beim Militär, immerhin reichten noch die Eindrücke und Erinnerungen der Jugend
knapp zu einer Art jüdischen Lebens aus, besonders da Du ja nicht viel
derartige Hilfe brauchtest, sondern von einem sehr kräftigen Stamm warst und
für Deine Person von religiösen Bedenken, wenn sie nicht mit gesellschaftlichen
Bedenken sich sehr mischten, kaum erschüttert werden konntest. Im Grund bestand
der Dein Leben führende Glaube darin, daß Du an die unbedingte Richtigkeit der
Meinungen einer bestimmten jüdischen Gesellschaftsklasse glaubtest und eigentlich
also, da diese Meinungen zu Deinem Wesen gehörten, Dir selbst glaubtest. Auch
darin lag noch genug Judentum, aber zum Weiterüberliefert-werden war es
gegenüber dem Kind zu wenig, es vertropfte zur Gänze während Du es weitergabst.
Zum Teil waren es unüberlieferbare Jugendeindrücke, zum Teil Dein gefürchtetes
Wesen. Es war auch unmöglich, einem vor lauter Ängstlichkeit überscharf
beobachtenden Kind begreiflich zu machen, daß die paar Nichtigkeiten, die Du im
Namen des Judentums mit einer ihrer Nichtigkeit entsprechenden Gleichgültigkeit
ausführtest, einen höheren Sinn haben konnten. Für Dich hatten sie Sinn als
kleine Andenken aus frühernZeiten und deshalb wolltest Du sie mir vermitteln,
konntest dies aber, da sie ja auch für Dich keinen Selbstwert mehr hatten, nur
durch Überredung oder Drohung tun; das konnte einerseits nicht gelingen und
mußte andererseits Dich, da Du Deine schwache Position hier gar nicht
erkanntest, sehr zornig gegen mich wegen meiner scheinbaren Verstocktheit
machen.
Das Ganze ist ja keine vereinzelte Erscheinung, ähnlich verhielt es sich bei
einem großen Teil dieser jüdischen Übergangsgeneration, welche vom
verhältnismäßig noch frommen Land in die Städte abwanderte; das ergab sich von
selbst, nur fügte es eben unserem Verhältnis, das ja an Schärfen keinen Mangel
hatte, noch eine genug schmerzliche hinzu. Dagegen sollst Du zwar auch in
diesem Punkt, ebenso wie ich, an Deine Schuldlosigkeit glauben, diese
Schuldlosigkeit aber durch Dein Wesen und durch die Zeitverhältnisse erklären, nicht
aber bloß durch die äußern Umstände, also nicht etwa sagen, Du hättest zu viel
andere Arbeit und Sorgen gehabt, als daß Du Dich auch noch mit solchen Dingen
hättest abgeben können. Auf diese Weise pflegst Du aus Deiner zweifellosen
Schuldlosigkeit einen ungerechten Vorwurf gegen andere zu drehn. Das ist dann
überall und auch hier sehr leicht zu widerlegen. Es hätte sich doch nicht etwa
um irgendeinen Unterricht gehandelt, den Du Deinen Kindern hättest geben
sollen, sondern um ein beispielhaftes Leben; wäre Dein Judentum stärker
gewesen, wäre auch Dein Beispiel zwingender gewesen, das ist ja
selbstverständlich und wieder gar kein Vorwurf, sondern nur eine Abwehr Deiner
Vorwürfe. Du hast letzthin Franklins Jugenderinnerungen gelesen. Ich habe sie
Dir wirklich absichtlich zum Lesen gegeben, aber nicht, wie Du ironisch
bemerktest, wegen einer kleinen Stelle über Vegetarianismus, sondern wegen des
Verhältnisses zwischen dem Verfasser und seinem Vater, wie es dort beschrieben
ist und des Verhältnisses zwischen dem Verfasser und seinem Sohn, wie es sich
von selbst in diesen für den Sohn geschriebenen Erinnerungen ausdrückt. Ich
will hier nicht Einzelnheiten hervorheben.
Eine gewisse nachträgliche Bestätigung dieser Auffassung von Deinem Judentum
bekam ich durch Dein Verhalten in den letzten Jahren, als es Dir schien, daß
ich mich mit jüdischen Dingen mehr beschäftige. Da Du von vornherein gegen jede
meiner Beschäftigungen und besonders gegen die Art meiner Interessenahme eine
Abneigung hast, so hattest Du sie auch hier. Aber darüber hinaus hätte man doch
erwarten können, daß Du hier eine kleine Ausnahme machst. Es war doch Judentum
von Deinem Judentum, das sich hier regte, und damit also auch die Möglichkeit
der Anknüpfung neuer Beziehungen zwischen uns. Ich leugne nicht, daß mir diese
Dinge, wenn Du für sie Interesse gezeigt hättest, gerade dadurch hätten
verdächtig werden können. Es fällt mir ja nicht ein, behaupten zu wollen, daß
ich in dieser Hinsicht irgendwie besser bin als Du. Aber zu der Probe darauf
kam es gar nicht. Durch meine Vermittlung wurde Dir das Judentum abscheulich,
jüdische Schriften unlesbar, sie "ekelten Dich an". Das konnte
bedeuten, daß Du darauf bestandest, nur gerade das Judentum wie Du es mir in
meiner Kinderzeit gezeigt hattest, sei das einzig Richtige, darüber hinaus gebe
es nichts. Aber daß Du darauf bestehen solltest, war doch kaum denkbar. Dann
aber konnte der "Ekel" (abgesehen davon daß er sich zunächst nicht
gegen das Judentum, sondern gegen meine Person richtete) nur bedeuten, daß Du
unbewußt die Schwäche Deines Judentums und meiner jüdischen Erziehung
anerkanntest, auf keine Weise daran erinnert werden wolltest und auf alle
Erinnerungen mit offenem Hasse antwortetest. Übrigens war Deine negative
Hochschätzung meines neuen Judentums sehr übertrieben; erstens trug es ja
Deinen Fluch in sich und zweitens war für seine Entwicklung das grundsätzliche
Verhältnis zu den Mitmenschen entscheidend, in meinem Fall also tödlich.
Richtiger trafst Du mit Deiner Abneigung mein Schreiben und was, Dir unbekannt,
damit zusammenhing. Hier war ich tatsächlich ein Stück selbstständig von Dir
weggekommen, wenn es auch ein wenig an den Wurm erinnerte, der, hinten von
einem Fuß niedergetreten, sich mit dem Vorderteil losreißt und zur Seite
schleppt. Einigermaßen in Sicherheit war ich, es gab ein Aufatmen; die
Abneigung, die Du natürlich gleich auch gegen mein Schreiben hattest, war mir
hier ausnahmsweise willkommen. Meine Eitelkeit, mein Ehrgeiz litten zwar unter
Deiner für uns berühmt gewordenen Begrüßung meiner Bücher: "Leg's auf den
Nachttisch!" (meistens spieltest Du ja Karten, wenn ein Buch kam), aber im
Grunde war mir dabei doch wohl, nicht nur aus aufbegehrender Bosheit, nicht nur
aus Freude über eine neue Bestätigung meiner Auffassung unseres Verhältnisses,
sondern ganz ursprünglich, weil jene Formel mir klang wie etwa: "Jetzt
bist Du frei!" Natürlich war es eine Täuschung, ich war nicht oder
allergünstigsten Falles noch nicht frei. Mein Schreiben handelte von Dir, ich
klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein
absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur daß er zwar von Dir
erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief. Aber wie wenig
war das alles! Es ist ja überhaupt nur deshalb der Rede wert, weil es sich in
meinem Leben ereignet hat, anderswo wäre es gar nicht zu merken, und dann noch
deshalb, weil es mir in der Kindheit als Ahnung, später als Hoffnung, noch
später oft als Verzweiflung mein Leben beherrschte und mir - wenn man will, doch
wieder in Deiner Gestalt - meine paar kleinen Entscheidungen diktierte.
Zum Beispiel die Berufswahl. Gewiß, Du gabst mir hier völlige Freiheit in
Deiner großzügigen und in diesem Sinn sogar geduldigen Art. Allerdings folgtest
Du hiebei auch der für Dich maßgebenden allgemeinen Söhnebehandlung des
jüdischen Mittelstandes oder zumindest den Werturteilen dieses Standes.
Schließlich wirkte hiebei auch eines Deiner Mißverständnisse hinsichtlich
meiner Person mit. Du hältst mich nämlich seit jeher aus Vaterstolz, aus
Unkenntnis meines eigentlichen Daseins, aus Rückschlüssen aus meiner
Schwächlichkeit für besonders fleißig. Als Kind habe ich Deiner Meinung nach
immerfort gelernt und später immerfort geschrieben. Das stimmt nun nicht im
entferntesten. Eher kann man mit viel weniger Übertreibung sagen, daß ich wenig
gelernt und nichts erlernt habe; daß etwas in den vielen Jahren bei einem
mittleren Gedächtnis, bei nicht allerschlechtester Auffassungskraft hängen
geblieben ist, ist ja nicht sehr merkwürdig, aber jedenfalls ist das
Gesamtergebnis an Wissen und besonders an Fundierung des Wissens äußerst
kläglich im Vergleich zu dem Aufwand an Zeit und Geld inmitten eines äußerlich
sorglosen, ruhigen Lebens, besonders auch im Vergleich zu fast allen Leuten,
die ich kenne. Es ist kläglich, aber für mich verständlich. Ich hatte, seitdem
ich denken kann, solche tiefste Sorgen der geistigen Existenzbehauptung, daß
mir alles andere gleichgültig war. Jüdische Gymnasiasten bei uns sind leicht
merkwürdig, man findet da das Unwahrscheinlichste, aber meine kalte, kaum
verhüllte, unzerstörbare, kindlich hilflose, bis ins Lächerliche gehende,
tierisch selbstzufriedene Gleichgültigkeit eines für sich genug, aber kalt
phantastischen Kindes habe ich sonst nirgends wieder gefunden, allerdings war
sie hier auch der einzige Schutz gegen die Nervenzerstörung durch Angst und
Schuldbewußtsein. Mich beschäftigte nur die Sorge um mich, diese aber in
verschiedenster Weise. Etwa als Sorge um meine Gesundheit; es fieng leicht an,
hier und dort ergab sich eine kleine Befürchtung wegen der Verdauung, des
Haarausfalls, einer Rückgratsverkrümmung u. s. w., das steigerte sich in
unzählbaren Abstufungen, schließlich endete es mit einer wirklichen Krankheit.
Was war das alles? Nicht eigentlich körperliche Krankheit. Aber da ich keines
Dinges sicher war, von jedem Augenblick eine neue Bestätigung meines Daseins
brauchte, nichts in meinem eigentlichen, unzweifelhaften, alleinigen, nur durch
mich eindeutig bestimmten Besitz war, in Wahrheit ein enterbter Sohn, wurde mir
natürlich auch das Nächste, der eigene Körper unsicher; ich wuchs lang in die
Höhe, wußte damit aber nichts anzufangen, die Last war zu schwer, der Rücken
wurde krumm; ich wagte mich kaum zu bewegen oder gar zu turnen, ich blieb
schwach; staunte alles, worüber ich noch verfügte als Wunder an, etwa meine
gute Verdauung; das genügte um sie zu verlieren und damit war der Weg zu aller
Hypochondrie frei, bis dann unter der übermenschlichen Anstrengung des
Heiraten-Wollens (darüber spreche ich noch) das Blut aus der Lunge kam, woran
ja die Wohnung im Schönbornpalais - die ich aber nur deshalb brauchte, weil ich
sie für mein Schreiben zu brauchen glaubte, so daß auch das auf dieses Blatt
gehört - genug Anteil gehabt haben kann. Also das alles stammte nicht von
übergroßer Arbeit, wie Du es Dir immer vorstellst. Es gab Jahre, in denen ich
bei voller Gesundheit mehr Zeit auf dem Kanapee verfaulenzt habe, als Du in
Deinem ganzen Leben, alle Krankheiten eingerechnet. Wenn ich höchstbeschäftigt
von Dir fortlief, war es meist, um mich in meinem Zimmer hinzulegen. Meine
Gesamtarbeitsleistung sowohl im Bureau (wo allerdings Faulheit nicht sehr
auffällt und überdies durch meine Ängstlichkeit in Grenzen gehalten war) als
auch zuhause ist winzig, hättest Du darüber einen Überblick, würde es Dich
entsetzen. Wahrscheinlich bin ich in meiner Anlage gar nicht faul, aber es gab
für mich nichts zu tun. Dort, wo ich lebte, war ich verworfen, abgeurteilt,
niedergekämpft und anderswohin mich zu flüchten strengte ich mich zwar äußerst
an, aber das war keine Arbeit, denn es handelte sich um Unmögliches, das für
meine Kräfte bis auf kleine Ausnahmen unerreichbar war.
In diesem Zustand bekam ich also die Freiheit der Berufswahl. War ich aber
überhaupt noch fähig eine solche Freiheit eigentlich zu gebrauchen? Traute ich
mir es denn noch zu, einen wirklichen Beruf erreichen zu können? Meine
Selbstbewertung war von Dir viel abhängiger, als von irgendetwas sonst, etwa
von einem äußern Erfolg. Der war die Stärkung eines Augenblicks, sonst nichts,
aber auf der andern Seite zog Dein Gewicht immer viel stärker hinunter. Niemals
würde ich durch die erste Volksschulklasse kommen, dachte ich, aber es gelang,
ich bekam sogar eine Prämie; aber die Aufnahmsprüfung ins Gymnasium würde ich
gewiß nicht bestehn, aber es gelang; aber nun falle ich in der ersten
Gymnasialklasse bestimmt durch, nein, ich fiel nicht durch und es gelang immer
weiter und weiter. Daraus ergab sich aber keine Zuversicht, im Gegenteil, immer
war ich überzeugt - und in Deiner abweisenden Miene hatte ich förmlich den
Beweis dafür - daß, je mehr mir gelingt, desto schlimmer es schließlich wird
ausgehn müssen. Oft sah ich im Geist die schreckliche Versammlung der
Professoren (das Gymnasium ist nur das einheitlichste Beispiel, überall um mich
war es aber ähnlich), wie sie, wenn ich die Prima überstanden hatte, also in
der Sekunda, wenn ich diese überstanden hatte, also in der Tertia u. s. w.
zusammenkommen würden, um diesen einzigartigen himmelschreienden Fall zu
untersuchen, wie es mir, dem Unfähigsten und jedenfalls Unwissendsten gelungen
war, mich bis hinauf in diese Klasse zu schleichen, die mich, da nun die
allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt war, natürlich sofort ausspeien
würde, zum Jubel aller von diesem Albdruck befreiten Gerechten. Mit solchen
Vorstellungen zu leben ist für ein Kind nicht leicht. Was kümmerte mich unter
diesen Umständen der Unterricht? Wer war imstande aus mir einen Funken von
Anteilnahme herauszuschlagen? Mich interessierte der Unterricht und nicht nur der
Unterricht, sondern alles ringsherum in diesem entscheidenden Alter etwa so,
wie einen Bankdefraudanten, der noch in Stellung ist und vor der Entdeckung
zittert, das kleine laufende Bankgeschäft interessiert, das er noch immer als
Beamter zu erledigen hat. So klein, so fern war alles neben der Hauptsache. Es
gieng dann weiter bis zur Matura, durch die ich wirklich schon zum Teil nur
durch Schwindel kam, und dann stockte es, jetzt war ich frei. Hatte ich schon
trotz dem Zwang des Gymnasiums mich nur auf mich koncentriert, wie erst jetzt,
da ich frei war. Also eigentliche Freiheit der Berufswahl gab es für mich
nicht, ich wußte: alles wird mir gegenüber der Hauptsache genau so gleichgültig
sein, wie alle Lehrgegenstände im Gymnasium, es handelt sich also darum einen
Beruf zu finden, der mir, ohne meine Eitelkeit allzusehr zu verletzen, diese
Gleichgültigkeit am ehesten erlaubt. Also war Jus das Selbstverständliche.
Kleine gegenteilige Versuche der Eitelkeit, der Hoffnung, wie vierzehntägiges
Chemiestudium, halbjähriges Deutschstudium verstärkten nur jene
Grundüberzeugung. Ich studierte also Jus. Das bedeutete, daß ich mich in den
paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig
förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von tausenden Mäulern
vorgekaut war. Aber in gewissem Sinn schmeckte mir das gerade, wie in gewissem
Sinn früher das Gymnasium und später der Beamtenberuf, denn das alles entsprach
vollkommen meiner Lage. Jedenfalls zeigte ich hier erstaunliche Voraussicht,
schon als kleines Kind hatte ich hinsichtlich der Studien und des Berufes genug
klare Vorahnungen. Von hier aus erwartete ich keine Rettung, hier hatte ich
schon längst verzichtet.
Gar keine Voraussicht fast zeigte ich aber hinsichtlich der Bedeutung und
Möglichkeit einer Ehe für mich; dieser bisher größte Schrecken meines Lebens
ist fast vollständig unerwartet über mich gekommen. Das Kind hatte sich so
langsam entwickelt, diese Dinge lagen ihm äußerlich gar zu abseits, hie und da
ergab sich die Notwendigkeit daran zu denken; daß sich hier aber eine dauernde,
entscheidende und sogar die erbitterteste Prüfung vorbereite, war nicht zu
erkennen. In Wirklichkeit aber wurden die Heirats versuche der großartigste und
hoffnungsreichste Versuch Dir zu entgehn, entsprechend großartig war dann
allerdings auch das Mißlingen.
Ich fürchte, weil mir in dieser Gegend alles mißlingt, daß es mir auch nicht
gelingen wird, Dir diese Heiratsversuche verständlich zu machen. Und doch hängt
das Gelingen des ganzen Briefes davon ab, denn in diesen Versuchen war
einerseits alles versammelt, was ich an positiven Kräften zur Verfügung hatte,
andererseits sammelten sich hier auch geradezu mit Wut alle negativen Kräfte,
die ich als Mitergebnis Deiner Erziehung beschrieben habe, also die Schwäche,
der Mangel an Selbstvertrauen, das Schuldbewußtsein und zogen förmlich einen
Kordon zwischen mir und der Heirat. Die Erklärung wird mir auch deshalb schwer
werden, weil ich hier alles in sovielen Tagen und Nächten durchdacht und
durchgraben habe, daß selbst mich jetzt der Anblick schon verwirrt. Erleichtert
wird mir die Erklärung nur durch Dein meiner Meinung nach vollständiges
Mißverstehn der Sache; ein so vollständiges Mißverstehn ein wenig zu
verbessern, scheint nicht übermäßig schwer.
Zunächst stellst Du das Mißlingen der Heiraten in die Reihe meiner sonstigen
Mißerfolge; dagegen hätte ich an sich nichts, vorausgesetzt daß Du meine
bisherige Erklärung der Mißerfolge annimmst. Es steht tatsächlich in dieser
Reihe, nur die Bedeutung der Sache unterschätzt Du und unterschätzt sie
derartig, daß wir, wenn wir mit einander davon reden, eigentlich von ganz
verschiedenem sprechen. Ich wage zu sagen, daß Dir in Deinem ganzen Leben
nichts geschehen ist, was für Dich eine solche Bedeutung gehabt hätte, wie für
mich die Heiratsversuche. Damit meine ich nicht, daß Du an sich nichts so
Bedeutendes erlebt hättest, im Gegenteil, Dein Leben war viel reicher und
sorgenvoller und gedrängter als meines, aber eben deshalb ist Dir nichts
derartiges geschehn. Es ist so wie wenn einer fünf niedrige Treppenstufen
hinaufzusteigen hat und ein zweiter nur eine Treppenstufe, die aber so hoch ist
wie jene fünf zusammen; der Erste wird nicht nur die fünf bewältigen, sondern
noch hunderte und tausende weitere, er wird ein großes und sehr anstrengendes
Leben geführt haben, aber keine der Stufen, die er erstiegen hat, wird für ihn
eine solche Bedeutung gehabt haben, wie für den Zweiten jene eine, erste, hohe,
für alle seine Kräfte unmöglich zu ersteigende Stufe, zu der er nicht hinauf
und über die er natürlich auch nicht hinauskommt.
Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder, welche kommen wollen, hinnehmen,
in dieser unsichern Welt erhalten und gar noch ein wenig führen ist meiner
Überzeugung nach das Äußerste, das einem Menschen überhaupt gelingen kann. Daß
es scheinbar so vielen leicht gelingt, ist kein Gegenbeweis, denn erstens
gelingt es tatsächlich nicht vielen und zweitens "tun" es diese
Nichtvielen meistens nicht, sondern es geschieht bloß mit ihnen; das ist zwar
nicht jenes Äußerste, aber doch noch sehr groß und sehr ehrenvoll (besonders da
sich "tun" und "geschehn" nicht rein von einander scheiden
lassen). Und schließlich handelt es sich auch gar nicht um dieses Äußerste,
sondern nur um irgendeine ferne, aber anständige Annäherung; es ist doch nicht
notwendig mitten in die Sonne hineinzufliegen, aber doch bis zu einem reinen
Plätzchen auf der Erde hinzukriechen, wo manchmal die Sonne hinscheint und man
sich ein wenig wärmen kann.
Wie war ich nun auf dieses vorbereitet? Möglichst schlecht. Das geht schon aus
dem bisherigen hervor. Soweit es aber dafür eine direkte Vorbereitung des
Einzelnen und eine direkte Schaffung der allgemeinen Grundbedingungen gibt,
hast Du äußerlich nicht viel eingegriffen. Es ist auch nicht anders möglich,
hier entscheiden die allgemeinen geschlechtlichen Standes-, Volks- und
Zeitsitten. Immerhin hast Du auch da eingegriffen, nicht viel, denn die
Voraussetzung solchen Eingreifens kann nur starkes gegenseitiges Vertrauen
sein, und daran fehlte es uns beiden schon längst zur entscheidenden Zeit, und
nicht sehr glücklich, weil ja unsere Bedürfnisse ganz verschieden waren; was
mich packt, muß Dich noch kaum berühren und umgekehrt, was bei Dir Unschuld
ist, kann bei mir Schuld sein und umgekehrt, was bei Dir folgenlos bleibt, kann
mein Sargdeckel sein.
Ich erinnere mich, ich gieng einmal abend mit Dir und der Mutter spazieren, es
war auf dem Josefsplatz in der Nähe der heutigen Länderbank und fing dumm
großtuerisch, überlegen, stolz, kühl (das war unwahr), kalt (das war echt) und
stotternd, wie ich eben meistens mit Dir sprach, von den interessanten Sachen
zu reden an, machte Euch Vorwürfe, daß ich unbelehrt gelassen worden bin, daß
sich erst die Mitschüler meiner hatten annehmen müssen, daß ich in der Nähe
großer Gefahren gewesen bin (hier log ich meiner Art nach unverschämt, um mich
mutig zu zeigen, denn infolge meiner Ängstlichkeit hatte ich bis auf die
gewöhnlichen Bettsünden der Stadtkinder keine genauere Vorstellung von den
"großen Gefahren") deutete aber zum Schluß an, daß ich jetzt schon
glücklicher Weise alles wisse, keinen Rat mehr brauche und alles in Ordnung
sei. Hauptsächlich hatte ich davon jedenfalls zu reden angefangen, weil es mir
Lust machte, davon wenigstens zu reden, dann auch aus Neugierde und schließlich
auch, um mich irgendwie für irgendetwas an Euch zu rächen. Du nahmst es
entsprechend Deinem Wesen sehr einfach, Du sagtest nur etwa, Du könnest mir
einen Rat geben, wie ich ohne Gefahr diese Dinge werde betreiben können.
Vielleicht hatte ich gerade eine solche Antwort hervorlocken wollen, sie
entsprach ja der Lüsternheit des mit Fleisch und allen guten Dingen
überfütterten, körperlich untätigen, mit sich ewig beschäftigten Kindes, aber
doch war meine äußerliche Scham dadurch so verletzt oder ich glaubte, sie müsse
so verletzt sein, daß ich gegen meinen Willen nicht mehr mit Dir darüber
sprechen konnte und hochmütig frech das Gespräch abbrach.
Es ist nicht leicht Deine damalige Antwort zu beurteilen, einerseits hat sie
doch etwas niederwerfend offenes, gewissermaßen urzeitliches, andererseits ist
sie allerdings, was die Lehre selbst betrifft, sehr neuzeitlich bedenkenlos.
Ich weiß nicht, wie alt ich damals war, viel älter als sechzehn Jahre gewiß
nicht. Für einen solchen Jungen war es aber doch eine sehr merkwürdige Antwort
und der Abstand zwischen uns beiden zeigt sich auch darin, daß das eigentlich
die erste direkte, Lebenumfassende Lehre war, die ich von Dir bekam. Ihr
eigentlicher Sinn aber, der sich schon damals in mich einsenkte, mir aber erst
viel später halb zu Bewußtsein kam, war folgender: Das, wozu Du mir rietest,
war doch das Deiner Meinung und gar erst meiner damaligen Meinung nach
schmutzigste, was es gab. Daß Du dafür sorgen wolltest, daß ich körperlich von
dem Schmutz nichts nachhause bringe, war nebensächlich, dadurch schütztest Du
ja nur Dich, Dein Haus. Die Hauptsache war vielmehr, daß Du außerhalb Deines
Rates bliebst, ein Ehemann, ein reiner Mann, erhaben über diese Dinge; das
verschärfte sich damals für mich wahrscheinlich noch dadurch, daß mir auch die
Ehe schamlos vorkam und es mir daher unmöglich war, das, was ich allgemeines
über die Ehe gehört hatte, auf meine Eltern anzuwenden. Dadurch wurdest Du noch
reiner, kamst noch höher. Der Gedanke, daß Du etwa vor der Ehe auch Dir einen
ähnlichen Rat hättest geben können, war mir völlig undenkbar. So war also fast kein
Restchen irdischen Schmutzes an Dir. Und eben Du stießest mich, so als wäre ich
dazu bestimmt, mit paar offenen Worten in diesen Schmutz hinunter. Bestand die
Welt also nur aus mir und Dir, eine Vorstellung, die mir sehr nahe lag, dann
endete also mit Dir die Reinheit der Welt und mit mir begann kraft Deines Rates
der Schmutz. An sich war es ja unverständlich, daß Du mich so verurteiltest,
nur alte Schuld und tiefste Verachtung Deinerseits konnte mir das erklären. Und
damit war ich also wieder in meinem innersten Wesen angefaßt undzwar sehr hart.
Hier wird vielleicht auch unser beider Schuldlosigkeit am deutlichsten. A. gibt
dem B. einen offenen, seiner Lebensauffassung entsprechenden, nicht sehr
schönen, aber doch auch heute in der Stadt durchaus üblichen,
Gesundheitsschädigungen vielleicht verhindernden Rat. Dieser Rat ist für B.
moralisch nicht sehr stärkend, aber warum sollte er sich aus dem Schaden nicht
im Laufe der Jahre herausarbeiten können, übrigens muß er ja dem Rat gar nicht
folgen und jedenfalls liegt in dem Rat allein kein Anlaß dafür, daß über B.
etwa seine ganze Zukunftswelt zusammenbricht. Und doch geschieht etwas in
dieser Art, aber eben nur deshalb weil A. Du bist und B. ich bin.
Diese beiderseitige Schuldlosigkeit kann ich auch deshalb besonders gut
überblicken, weil sich ein ähnlicher Zusammenstoß zwischen uns unter ganz
andern Verhältnissen etwa zwanzig Jahre später wieder ereignet hat, als
Tatsache grauenhaft, an und für sich allerdings viel unschädlicher, denn wo war
da etwas an mir Sechsunddreißigjährigem, dem noch geschadet werden konnte. Ich
meine damit eine kleine Aussprache an einem der paar aufgeregten Tage nach
Mitteilung meiner letzten Heiratsabsicht. Du sagtest zu mir etwa: "Sie hat
wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das die Prager
Jüdinnen verstehn und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen sie zu
heiraten. Undzwar möglichst rasch, in einer Woche, morgen, heute. Ich begreife
Dich nicht, Du bist doch ein erwachsener Mensch, bist in der Stadt, und weißt
Dir keinen andern Rat, als gleich eine Beliebige zu heiraten. Gibt es da keine
anderen Möglichkeiten? Wenn Du Dich davor fürchtest, werde ich selbst mit Dir
hingehn. " Du sprachst ausführlicher und deutlicher, aber ich kann mich an
die Einzelnheiten nicht mehr erinnern, vielleicht wurde mir auch ein wenig
nebelhaft vor den Augen, fast interessierte mich mehr die Mutter, wie sie, zwar
vollständig mit Dir einverstanden, immerhin etwas vom Tisch nahm und damit aus
dem Zimmer gieng.
Tiefer gedemütigt hast Du mich mit Worten wohl kaum und deutlicher mir Deine
Verachtung nie gezeigt. Als Du vor zwanzig Jahren ähnlich zu mir gesprochen
hast, hätte man darin mit Deinen Augen sogar etwas Respekt für den frühreifen
Stadtjungen sehen können, der Deiner Meinung nach schon so ohne Umwege ins
Leben eingeführt werden konnte. Heute könnte diese Rücksicht die Verachtung nur
noch steigern, denn der Junge, der damals einen Anlauf nahm, ist in ihm stecken
geblieben und scheint Dir heute um keine Erfahrung reicher, sondern nur um
zwanzig Jahre jämmerlicher. Meine Entscheidung für ein Mädchen bedeutete Dir
gar nichts. Du hattest meine Entscheidungskraft (unbewußt) immer niedergehalten
und glaubtest jetzt (unbewußt) zu wissen, was sie wert war. Von meinen
Rettungsversuchen in andern Richtungen wußtest Du nichts, daher konntest Du
auch von den Gedankengängen, die mich zu diesem Heiratsversuch geführt hatten,
nichts wissen, mußtest sie zu erraten suchen und rietst entsprechend dem
Gesamturteil, das Du über mich hattest, auf das Abscheulichste, Plumpste,
Lächerlichste. Und zögertest keinen Augenblick, mir das auf ebensolche Weise zu
sagen. Die Schande, die Du damit mir antatest, war Dir nichts im Vergleich zu
der Schande, die ich Deiner Meinung nach Deinem Namen durch die Heirat machen
würde.
Nun kannst Du ja hinsichtlich meiner Heiratsversuche manches mir antworten und
hast es auch getan: Du könnest nicht viel Respekt vor meiner Entscheidung
haben, wenn ich die Verlobung mit F. zweimal aufgelöst und zweimal wieder
aufgenommen habe, wenn ich Dich und die Mutter nutzlos zu der Verlobung nach
Berlin geschleppt habe u. s. w. Das alles ist wahr, aber wie kam es dazu?
Der Grundgedanke beider Heiratsversuche war ganz korrekt: einen Hausstand
gründen, selbstständig werden. Ein Gedanke, der Dir ja sympatisch ist, nur daß
es dann in Wirklichkeit so ausfällt, wie das Kinderspiel, wo einer die Hand des
andern hält und sogar preßt und dabei ruft: "Also geh doch, geh doch,
warum gehst Du nicht? " Was sich allerdings in unserem Fall dadurch
kompliciert, daß Du das "geh doch! " seit jeher ehrlich gemeint hast,
da Du ebenso seit jeher, ohne es zu wissen, nur kraft Deines Wesens mich
gehalten oder richtiger niedergehalten hast.
Beide Mädchen waren zwar durch den Zufall, aber außerordentlich gut gewählt.
Wieder ein Zeichen Deines vollständigen Mißverstehns, daß Du glauben kannst,
ich der Ängstliche, Zögernde, Verdächtigende entschließe mich mit einem Ruck
für eine Heirat, etwa aus Entzücken über eine Bluse. Beide Ehen wären vielmehr
Vernunftehen geworden, soweit damit gesagt ist, daß Tag und Nacht, das erste
Mal Jahre, das zweite Mal Monate alle meine Denkkraft an den Plan gewendet
worden ist.
Keines der Mädchen hat mich enttäuscht, nur ich sie beide. Mein Urteil über sie
ist heute genau das gleiche, wie damals als ich sie heiraten wollte.
Es ist auch nicht so, daß ich beim zweiten Heiratsversuch die Erfahrungen des
ersten mißachtet hätte, also leichtsinnig gewesen wäre. Die Fälle waren eben
ganz verschieden, gerade die früheren Erfahrungen konnten mir im zweiten Fall,
der überhaupt viel aussichtsreicher war, Hoffnung geben. Von Einzelnheiten will
ich hier nicht reden.
Warum also habe ich nicht geheiratet? Es gab einzelne Hindernisse wie überall,
aber im Nehmen solcher Hindernisse besteht ja das Leben. Das wesentliche, vom
einzelnen Fall leider unabhängige Hindernis war aber, daß ich offenbar geistig
unfähig bin zu heiraten. Das äußert sich darin, daß ich von dem Augenblick an,
wo ich mich entschließe zu heiraten nicht mehr schlafen kann, der Kopf glüht
bei Tag und Nacht, es ist kein Leben mehr, ich schwanke verzweifelt herum. Es
sind das nicht eigentlich Sorgen, die das verursachen, zwar laufen auch entsprechend
meiner Schwerblütigkeit und Pedanterie unzählige Sorgen mit, aber sie sind
nicht das entscheidende, sie vollenden zwar wie Würmer die Arbeit am Leichnam,
aber entscheidend getroffen bin ich von anderem. Es ist der allgemeine Druck
der Angst, der Schwäche, der Selbstmißachtung.
Ich will es näher zu erklären versuchen: Hier beim Heiratsversuch trifft in
meinen Beziehungen zu Dir zweierlei scheinbar Entgegengesetztes so stark wie
nirgends sonst zusammen. Die Heirat ist gewiß die Bürgschaft für die schärfste
Selbstbefreiung und Unabhängigkeit. Ich hätte eine Familie, das Höchste, was
man meiner Meinung nach erreichen kann, also auch das Höchste, was Du erreicht
hast, ich wäre Dir ebenbürtig, alle alte und ewig neue Schande und Tyrannei
wäre bloß noch Geschichte. Das wäre allerdings märchenhaft, aber darin liegt
eben schon das Fragwürdige. Es ist zu viel, so viel kann nicht erreicht werden.
Es ist so, wie wenn einer gefangen wäre und er hätte nicht nur die Absicht zu
fliehen, was vielleicht erreichbar wäre, sondern auch noch undzwar gleichzeitig
die Absicht, das Gefängnis in ein Lustschloß für sich umzubauen. Wenn er aber
flieht, kann er nicht umbauen und wenn er umbaut, kann er nicht fliehn. Wenn
ich in dem besonderen Unglücksverhältnis, in welchem ich zu Dir stehe,
selbstständig werden will, muß ich etwas tun, was möglichst gar keine Beziehung
zu Dir hat; das Heiraten ist zwar das Größte und gibt die ehrenvollste
Selbstständigkeit, aber es ist auch gleichzeitig in engster Beziehung zu Dir.
Hier hinauskommen zu wollen, hat deshalb etwas von Wahnsinn und jeder Versuch
wird fast damit gestraft.
Gerade diese enge Beziehung lockt mich ja teilweise auch zum Heiraten. Ich
denke mir diese Ebenbürtigkeit, die dann zwischen uns entstehen würde und die
Du verstehen könntest wie keine andere, eben deshalb so schön, weil ich dann
ein freier, dankbarer, schuldloser, aufrechter Sohn sein, Du ein unbedrückter,
untyrannischer, mitfühlender, zufriedener Vater sein könntest. Aber zu dem
Zweck müßte eben alles Geschehene ungeschehen gemacht, d. h. wir selbst
ausgestrichen werden.
So wie wir aber sind, ist mir das Heiraten dadurch verschlossen, daß es gerade
Dein eigenstes Gebiet ist. Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und
Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für
mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder
die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der
Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche
Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.
Schon dieser Vergleich beweist, daß ich keineswegs sagen will, Du hättest mich
durch Dein Beispiel aus der Ehe, so etwa wie aus dem Geschäft verjagt. Im
Gegenteil, trotz aller fernen Ähnlichkeit. Ich hatte in Euerer Ehe eine in
vielem mustergiltige Ehe vor mir, mustergiltig in Treue, gegenseitiger Hilfe,
Kinderzahl und selbst als dann die Kinder groß wurden und immer mehr den
Frieden störten, blieb die Ehe als solche davon unberührt. Gerade an diesem
Beispiel bildete sich vielleicht auch mein hoher Begriff von der Ehe; daß das
Verlangen nach der Ehe ohnmächtig war, hatte eben andere Gründe. Sie lagen in
Deinem Verhältnis zu den Kindern, von dem ja der ganze Brief handelt.
Es gibt eine Meinung, nach der die Angst vor der Ehe manchmal davon herrührt,
daß man fürchtet, die Kinder würden einem später das heimzahlen, was man selbst
an den eigenen Eltern gesündigt hat. Das hat, glaube ich, in meinem Fall keine
sehr große Bedeutung, denn mein Schuldbewußtsein stammt ja eigentlich von Dir
und ist auch zu sehr von seiner Einzigartigkeit durchdrungen, ja dieses Gefühl
der Einzigartigkeit gehört zu seinem quälenden Wesen, eine Wiederholung ist
unausdenkbar. Immerhin muß ich sagen, daß mir ein solcher stummer, dumpfer,
trockener, verfallener Sohn unerträglich wäre, ich würde wohl, wenn keine
andere Möglichkeit wäre, vor ihm fliehn, auswandern, wie Du es erst wegen
meiner Heirat machen wolltest. Also mitbeeinflußt mag ich bei meiner
Heiratsunfähigkeit auch davon sein.
Viel wichtiger aber ist dabei die Angst um mich. Das ist so zu verstehn: Ich
habe schon angedeutet, daß ich im Schreiben und in dem, was damit
zusammenhängt, kleine Selbstständigkeitsversuche, Fluchtversuche mit
allerkleinstem Erfolg gemacht habe, sie werden kaum weiterführen, vieles
bestätigt mir das. Trotzdem ist es meine Pflicht oder vielmehr es besteht mein
Leben darin, über ihnen zu wachen, keine Gefahr, die ich abwehren kann, ja
keine Möglichkeit einer solchen Gefahr an sie herankommen zu lassen. Die Ehe
ist die
Möglichkeit einer solchen Gefahr, allerdings auch die Möglichkeit der größten
Förderung, mir aber genügt, daß es die Möglichkeit einer Gefahr ist. Was würde
ich dann anfangen, wenn es doch eine Gefahr wäre! Wie könnte ich in der Ehe weiterleben
in dem vielleicht unbeweisbaren, aber jedenfalls unwiderleglichen Gefühl dieser
Gefahr! Demgegenüber kann ich zwar schwanken, aber der schließliche Ausgang ist
gewiß, ich muß verzichten. Der Vergleich vom Sperling in der Hand und der Taube
auf dem Dach paßt hier nur sehr entfernt. In der Hand habe ich nichts, auf dem
Dach ist alles und doch muß ich - so entscheiden es die Kampfverhältnisse und
die Lebensnot - das Nichts wählen. Ähnlich habe ich ja auch bei der Berufswahl
wählen müssen.
Das wichtigste Ehehindernis aber ist die schon unausrottbare Überzeugung, daß
zur Familienerhaltung und gar zu ihrer Führung alles das notwendig gehört, was
ich an Dir erkannt habe undzwar alles zusammen, Gutes und Schlechtes, so wie es
organisch in Dir vereinigt ist, also Stärke und Verhöhnung des andern,
Gesundheit und eine gewisse Maßlosigkeit, Redebegabung und Unzugänglichkeit,
Selbstvertrauen und Unzufriedenheit mit jedem andern, Weltüberlegenheit und
Tyrannei, Menschenkenntnis und Mißtrauen gegenüber den meisten, dann auch
Vorzüge ohne jeden Nachteil wie Fleiß, Ausdauer, Geistesgegenwart,
Unerschrockenheit. Von alledem hatte ich vergleichsweise fast nichts oder nur
sehr wenig und damit wollte ich zu heiraten wagen, während ich doch sah, daß
selbst Du in der Ehe schwer zu kämpfen hattest und gegenüber den Kindern sogar
versagtest? Diese Frage stellte ich mir natürlich nicht ausdrücklich und
beantwortete sie nicht ausdrücklich, sonst hätte sich ja das gewöhnliche Denken
der Sache bemächtigt und mir andere Männer gezeigt, welche anders sind als Du
(um in der Nähe einen von Dir sehr verschiedenen zu nennen: Onkel Richard) und
doch geheiratet haben und darunter wenigstens nicht zusammengebrochen sind, was
schon sehr viel ist und mir reichlich genügt hätte. Aber diese Frage stellte
ich eben nicht, sondern erlebte sie von Kindheit an. Ich prüfte mich ja nicht
erst gegenüber der Ehe sondern gegenüber jeder Kleinigkeit; gegenüber jeder
Kleinigkeit überzeugtest Du mich durch Dein Beispiel und durch Deine Erziehung,
so wie ich es zu beschreiben versucht habe, von meiner Unfähigkeit und was bei
jeder Kleinigkeit stimmte und Dir Recht gab, mußte natürlich ungeheuerlich
stimmen vor dem Größten, also vor der Ehe. Bis zu den Heiratsversuchen bin ich
aufgewachsen etwa wie ein Geschäftsmann, der zwar mit Sorgen und schlimmen
Ahnungen, aber ohne genaue Buchführung in den Tag hineinlebt. Er hat ein paar
kleine Gewinne, die er infolge ihrer Seltenheit in seiner Vorstellung immerfort
hätschelt und übertreibt, und sonst nur tägliche Verluste. Alles wird
eingetragen, aber niemals bilanziert. Jetzt kommt der Zwang zur Bilanz, d. h.
der Heiratsversuch. Und es ist bei den großen Summen, mit denen hier zu rechnen
ist, so, als ob niemals auch nur der kleinste Gewinn gewesen wäre, alles eine
einzige große Schuld. Und jetzt heirate, ohne wahnsinnig zu werden!
So endet mein bi sheriges Leben mit Dir und solche Aussichten trägt es in sich
für die Zukunft.
Du könntest, wenn Du meine Begründung der Furcht, die ich vor Dir habe,
überblickst, antworten: "Du behauptest, ich mache es mir leicht, wenn ich
mein Verhältnis zu Dir einfach durch Dein Verschulden erkläre, ich aber glaube,
daß Du trotz äußerlicher Anstrengung es Dir zumindest nicht schwerer, aber viel
einträglicher machst. Zuerst lehnst auch Du jede Schuld und Verantwortung von
Dir ab, darin ist also unser Verfahren das gleiche. Während ich aber dann so
offen, wie ich es auch meine, die alleinige Schuld Dir zuschreibe,
willst Du gleichzeitig "übergescheit" und "überzärtlich"
sein und auch mich von jeder Schuld freisprechen. Natürlich gelingt Dir das
letztere nur scheinbar (mehr willst Du ja auch nicht) und es ergibt sich
zwischen den Zeilen trotz aller "Redensarten" von Wesen und Natur und
Gegensatz und Hilflosigkeit, daß eigentlich ich der Angreifer gewesen bin,
während alles, was Du getrieben hast, nur Selbstwehr war. Jetzt hättest Du also
schon durch Deine Unaufrichtigkeit genug erreicht, denn Du hast dreierlei
bewiesen, erstens daß Du unschuldig bist, zweitens daß ich schuldig bin und
drittens daß Du aus lauter Großartigkeit bereit bist, nicht nur mir zu
verzeihn, sondern, was mehr und weniger ist, auch noch zu beweisen und es
selbst glauben zu wollen, daß ich, allerdings entgegen der Wahrheit, auch
unschuldig bin. Das könnte Dir jetzt schon genügen, aber es genügt Dir noch
nicht. Du hast es Dir nämlich in den Kopf gesetzt, ganz und gar von mir leben
zu wollen. Ich gebe zu, daß wir miteinander kämpfen, aber es gibt zweierlei
Kampf. Den ritterlichen Kampf, wo sich die Kräfte selbstständiger Gegner messen,
jeder bleibt für sich, verliert für sich, siegt für sich. Und den Kampf des
Ungeziefers, welches nicht nur sticht, sondern gleich auch zu seiner
Lebenserhaltung das Blut saugt. Das ist ja der eigentliche Berufssoldat und das
bist Du. Lebensuntüchtig bist Du; um es Dir aber darin bequem, sorgenlos und
ohne Selbstvorwürfe einrichten zu können, beweist Du, daß ich alle Deine
Lebenstüchtigkeit Dir genommen und in meine Taschen gesteckt habe. Was kümmert
es Dich jetzt, wenn Du lebensuntüchtig bist, ich habe ja die Verantwortung, Du
aber streckst Dich ruhig aus und läßt Dich, körperlich und geistig, von mir
durchs Leben schleifen. Ein Beispiel: Als Du letzthin heiraten wolltest,
wolltest Du, das gibst Du ja in diesem Brief zu, gleichzeitig nicht heiraten, wolltest
aber, um Dich nicht anstrengen zu müssen, daß ich Dir zum Nichtheiraten
verhelfe, indem ich wegen der "Schande", die die Verbindung meinem
Namen machen würde, Dir diese Heirat verbiete. Das fiel mir nun aber gar nicht
ein. Erstens wollte ich Dir hier, wie auch sonst nie "in Deinem Glück
hinderlich sein" und zweitens will ich niemals einen derartigen Vorwurf
von meinem Kind zu hören bekommen. Hat mir aber die Selbstüberwindung, mit der
ich Dir die Heirat freistellte, etwas geholfen? Nicht das geringste. Meine
Abneigung gegen die Heirat hätte sie nicht verhindert, im Gegenteil, es wäre an
sich noch ein Anreiz mehr für Dich gewesen, das Mädchen zu heiraten, denn der
"Fluchtversuch", wie Du Dich ausdrückst, wäre ja dadurch vollkommen
geworden. Und meine Erlaubnis zur Heirat hat Deine Vorwürfe nicht verhindert,
denn Du beweist ja, daß ich auf jeden Fall an Deinem Nichtheiraten schuld bin.
Im Grunde aber hast Du hier und in allem anderen für mich nichts anderes
bewiesen, als daß alle meine Vorwürfe berechtigt waren und daß unter ihnen noch
ein besonders berechtigter Vorwurf gefehlt hat, nämlich der Vorwurf der
Unaufrichtigkeit, der Liebedienerei, des Schmarotzertums. Wenn ich nicht sehr
irre, schmarotzest Du an mir auch noch mit diesem Brief als solchem. "
Darauf antworte ich, daß zunächst dieser ganze Einwurf, der sich zum Teil auch
gegen Dich kehren läßt, nicht von Dir stammt, sondern eben von mir. So groß ist
ja nicht einmal Dein Mißtrauen gegen andere, wie mein Selbstmißtrauen, zu dem
Du mich erzogen hast. Eine gewisse Berechtigung des Einwurfes, der ja auch noch
an sich zur Charakterisierung unseres Verhältnisses Neues beiträgt, leugne ich
nicht. So können natürlich die Dinge in Wirklichkeit nicht aneinanderpassen,
wie die Beweise in meinem Brief, das Leben ist mehr als ein Geduldspiel; aber
mit der Korrektur, die sich durch diesen Einwurf ergibt, eine Korrektur, die
ich im Einzelnen weder ausführen kann noch will, ist meiner Meinung nach doch
etwas der Wahrheit so sehr Angenähertes erreicht, daß es uns beide ein wenig
beruhigen und Leben und Sterben leichter machen kann.
Franz
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